Gedichte im Islam
Der Trunk im Zelte

von
Friedrich Rückert

Als Mahdi der Chalife sich verirrte
Auf einer Jagd im weiten Feld,
Fand er ein einsames Gezelt,
Und suchte Gastrecht beim gastfreien Wirthe.
Der Zeltbewohner bracht’ ihm Milch und Brot;
Er aber fragte: Hast du Wein?
„Und kennest du nicht das Verbot?“
Ei bring nur her! Wir sind allein. –
Der Zeltbewohner ging und trug
Dem Gast auf einen vollen Krug,
Und schenkt’ ihm einen Becher ein,
Indem er schweigend sich an seine Seite setzte,
Der seinen Becher leert’ auf einen Zug.
Da fragte plötzlich der Geletzte:
Weißt du auch, wer ich bin? „Wie sollt’ ichs? Nein,
Du müsstest denn mir’s im Vertraun gestehen,
Vor welchen deinesgleichen stehn, nicht sitzen. –
Da stand mit guten Witzen
Der Zeltbewohner auf, und schenkt’ ihm stehend ein.
Der Durst’ge trank den zweiten Becher Wein,
Dass es dem Wirthe recht behagte,
Bis ihn der Gast nun wieder fragte:
Und weißt du, wer ich bin? „Ei, nein,
Wenn nicht dein Mund vorhin die Wahrheit sagte.“
Ich wollt’ es dir zum Teil verschweigen,
Ich bin ein Mann, vor dem sich alle neigen. –
Da neigte sich der Wirth, und schenkt’ ihm wieder ein.
Er trank den dritten Becher leer,
Und fragte wieder wie vorher:
Und weißt du, wer ich bin? „O nein!
Du bist vielleicht schon wieder mehr.“
Ja, der Chalif bin ich, vor dessen Winken
Zu Boden deinesgleichen sinken. –
Da nahm der Bauer krug und Becher,
Und eilete damit zur Tür.
Wo gehst du hin zur Ungebühr?
Rief der noch nicht begnügte Zecher.
Doch jener sprach: Der Wein ist schlecht,
Ich seh’, er macht Großsprecher.
Ich fürchte, wenn du mehr gezecht,
So wirst du mir noch zum Profeten,
Dem auf sein Wort man glauben muss,
Und endlich gar zum Schluss
Gott, den man an muss beten.
Der Wein ist nicht für deinen Sinn,
Der stets dich zu was anderm macht;
Ich trink’ ihn mäßig Nacht für Nacht,
Und bleibe immer wer ich bin.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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