Gedichte im Islam
Der Schatz der Jugend

von
Friedrich Rückert

Der Schatz der Jugend

Arm nach Schirwan kam ein Fremdling,
Arm zum Äußersten der Armut,
Aber jung und Wohlgebildet,
Künftig und zur Arbeit munter,
Ward er erst ein Tagelöhner
In dem Garten eines Reiches,
Tätig dann und unverdrossen,
Ratlos strebend, selbst ein reicher,
Und zuletzt der reichste Kaufmann
In ganz Schirwan. In der Jugend
Merkt’ er nicht, dass alt er werde,
Und als er war alt geworden,
Bracht’ ihm nichts die Jugend wieder,
Seine Jugend, unter Arbeit
Und Erwerb dahin geschwunden,
Ohne Weib und ohne Kinder,
Ohne Freund’ und Anverwandte,
Nichts als die Erinnerung seiner
Jugendheimat wach geblieben.
Und ergriffen von der Sehnsucht,
Noch einmal die Flur zu sehen,
Wo er arm geboren worden,
Rafft er sorgsam seine Schätze,
Sammelt eifrig seine Habe,
Rüstet sich, mit seinen Gütern
Schirwan zu verlassen; aber
Schirwan’s Fürst tritt ihm entgegen,
Spricht: Du bist hier reich geworden,
Und willst nun die Stadt verlassen
Mit dem Reichtum, Undankbarer!
Lass die Güter hier erworben,
Und geh, wie du kamst, von dannen!
Doch er spricht: Mit einem Schatze
Bin ich einst hierher gekommen,
Der hier unter deiner Herrschaft
Mir abhanden ist gekommen;
Gibst du mir denselben wieder,
Lass ich gern dir all die andern.
Gib mir die hierher gebrachte,
Unter Arbeit hier verlorne,
meine Jugend gib mir wieder!
Können, dass ich sie verloren,
Mich dafür wohl alle Schätze
Trösten, die ich hab’ erworben?

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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