Gedichte im Islam
Der scharfe Blick

von
Friedrich Rückert

Als noch bei seinem Meister Alkesa’i
Den Koran lesen lernt’ als Kind Almamun,
War dis des ernsten Meisters strenge Art,
Dass er sein Haupt, das er nachdenkend senkte,
Nicht ehr erhob und einen Blick dem Schüler
Zuwendet’, als wenn dieser falsch gelesen,
Zum Zeichen, dass ers wiederholen sollte.
Als nun der Knab’ einmal die Stelle las:
Ihr Gläubigen, warum
Tut ihr nicht, was ihr saget?
Gab ihm der Meister einen scharfen Blick,
Dass er erschrak, und meinte falsch gelesen
Zu haben; aber als er hinsah, fand
Er alles so, und las noch einmal so.
Doch nach der Schule trat zu seinem Vater
Almamun hin und sprach: O Fürst der Gläubigen!
Hast du vielleicht dem Alkesa’i etwas
Verheißen und noch nicht gegebn, gib’s ihm! –
Wie räthst du das? Mein Sohn! Sprach Alraschid. –
Weil er mich heut scharf ansah, da ich las:
Ihr Gläubigen, warum
Tut ihr nicht, was ihr saget. –
Dein Meister hat, sprach lächelnd Alraschid,
Doch einen scharfen Blick, den Vater also
Zu mahnen durch den Sohn, und du, mein Sohn,
Hast, ihn verstehend, einen schärferen noch.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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