Dreizehntes KapitelMirza-Schaffy als Kritiker
Theils zu eigener Uebung, theils um dem
Weisen von Gjändsha mehr Respekt einzuflößen vor den Sängern
des Abendlandes, machte ich wiederholt Versuche, Lieder aus
dem Deutschen und Englischen in das Tatarische zu übersetzen.
Diese Versuche waren für mich in mehr als einer Beziehung
von Wichtigkeit. Ich sehe hier ab von den sprachlichen
Vortheilen welche mir daraus erwuchsen, und hebe blos die
ästhetische Seite hervor.
Wir haben schon früher gesehen, daß Mirza-Schaffy auf eine
schöne Diktion, auf Wohlklang und Formvollendung nur dann ein
besonderes Gewicht legte, wenn sich ein wirklicher Gehalt
damit vereinte. Er ließ es daher auch niemals als genügende
Entschuldigung gelten, wenn ich bei Gedichten, deren Inhalt
ihm nicht sonderlich gefiel, oder bei solchen, welche (wie das
sehr häufig vorkam) gar keinen Inhalt hatten, die Schönheit
der Sprache des Originals rühmend hervorhob. Hingegen gaben
seine Bemerkungen über Bild und Gedanken in den von mir
übersetzten Gedichten mir nicht allein immer Stoff zum
Nachdenken, sondern ließen mich auch oft tiefe Blicke in die
Anschauungsweise und Gefühlswelt der Orientalen thun.
Jene überschwengliche Sentimentalität, die in der deutschen
Lyrik eine so große Rolle spielt und nicht wenig zu unserer
Entartung und Entnervung beigetragen hat, ist den
morgenländischen Dichtern ebenso unbekannt wie unverständlich.
Diese streben immer einem realen, greifbaren Ziele zu. Aber um
dieses Ziel zu erreichen, setzen sie Himmel und Erde in
Bewegung. Kein Bild liegt dem Dichter zu weit und kein Gedanke
zu hoch. Der Halbmond ist ihm ein goldnes Hufeisen, womit er
das Roß seines Lieblingshelden beschlägt. Die Sterne sind ihm
goldene Nägel, womit der Herr den Himmel befestigt, damit er
nicht herabstürzt aus Verlangen nach Selma. Die Cypressen und
Cedern werden nur in den Hain gepflanzt zur Erinnerung an den
Wuchs schlanker Mädchen. Die Trauerweide läßt klagend ihr
grünes Haar herabhängen in's Wasser, weil sie nicht schlank
ist wie Selma. Die Augen der Geliebten sind Sonnen, welche
alle Gläubigen zu Feueranbetern machen. Die Sonne selbst ist
nur eine leuchtende Lyra und ihre Strahlen sind goldene
Saiten, aus denen der Ost die lieblichsten Akkorde lockt zum
Preise der Erdenschöne und Liebesmacht . . .
Nehmen wir jetzt eines meiner Hefte aus der Schule der
Weisheit zur Hand, um Mirza-Schaffy's Urtheil über die Poesie
des Abendlandes durch einige Beispiele zu veranschaulichen.
Eine Auswahl kleiner Gedichte, welche ich von Göthe und
Heine übersetzt hatte, sagte ihm ganz besonders zu. Ganz
entzückt war er von dem Göthe'schen: Kennst Du das Land &c.,
und von dem Heine'schen Fischerliede welches mit den Versen
endet:
Mein Herz gleicht ganz dem Meere,
Hat Sturm und Ebb' und Fluth,
Und manche schöne Perle
In seiner Tiefe ruht.
Schwieriger war es, ihn mit den Schönheiten der
Schillerschen Gedichte bekannt zu machen. Er kam aber doch zu
der Erkenntniß, daß jedes dieser Gedichte einen guten Kern in
sich schließt, wenn es uns in sprachlicher Beziehung auch oft
schwer war, den Kern aus der goldnen Umhüllung
herauszuschälen. Wo solche Schwierigkeiten auftauchten, mußte
ein uns befreundeter Armenier, H. Budakow, der Lehrer der
persischen Sprache am Gymnasium zu Tiflis war, aushelfen.
Budakow war sowohl der deutschen wie auch der englischen und
französischen Sprache mächtig und es machte ihm selbst viel
Vergnügen, Lieder aus diesen Sprachen in morgenländisches
Gewand kleiden zu helfen.
Es wurde uns bei diesen Uebungen recht klar, wieviel selbst
für die geistreichsten Menschen beim Genusse fremder Poesien
verloren geht, wenn die Kenntniß des Bodens fehlt darauf sie
gewachsen sind und die Kenntniß der feineren Beziehungen, ohne
welche oft die duftigsten Gedichte ganz unverständlich
bleiben.
So versuchten wir eines Tages das Gedicht von Heine zu
übersetzen, wo er von den Sternen sagt:
Sie sprechen eine Sprache,
Die ist so reich, so schön,
Doch keiner der Philologen
Kann diese Sprache versteh'n!
Ich aber hab' sie erlernet,
Und ich vergesse sie nicht –
Mir diente als Grammatik
Der Herzallerliebsten Gesicht!
Budakow verstand vollkommen den Witz dieses Gedichtes, aber
unsere vereinten Kräfte reichten nicht aus, Mirza-Schaffy
einen Begriff davon zu geben, eben weil weder die tatarische
noch die persische Sprache einen entsprechenden Ausdruck für
das hat, was wir unter »Philologen« verstehen. Wir konnten das
Wort nur durch Dilbilir (Sprachenkundiger) übersetzen; ein
solcher Dilbilir war aber Mirza-Schaffy selbst, und wie konnte
der Weise von Gjändsha zugeben, daß Andere die Sprache der
Sterne besser verstehen sollten, als er und seines Gleichen?
Einige Lieder von Thomas Moore und Lord Byron machten ihm
große Freude und waren ihm verständlich, ohne daß es eines
Kommentars dazu bedurfte. Einen gewaltigen Eindruck auf ihn
machte das wunderbar schöne Gedicht von Rev. C. Wolfe:
»Not a drum was heard, nor a funeral note etc.«
Nicht so gut ging es mit Uhland und Geibel. Ich besinne
mich noch, wie ich von Letzterm ein hübsches Lied übersetzte,
welches ich seitdem in Deutschland oft wieder gehört und immer
lebhaft dadurch an Mirza-Schaffy und sein Urtheil erinnert
wurde. Ich meine das Lied:
Die stille Wasserrose
Steigt aus dem blauen See,
Die Blätter flimmern und blitzen,
Der Kelch ist weiß wie Schnee.
Da gießt der Mond vom Himmel
All seinen gold'nen Schein,
Gießt alle seine Strahlen
In ihren Schooß hinein.
Im Wasser um die Blume
Kreiset ein weißer Schwan,
Er singt so süß, so leise,
Und schaut die Blume an.
Er singt so süß, so leise,
Und will im Singen vergeh'n;
O Blume, weiße Blume,
Kannst Du das Lied versteh'n?
Mirza-Schaffy schüttelte den Kopf und schob das Lied bei
Seite mit den Worten: »Ein thörichter Schwan!«
– »Gefällt Dir das Lied nicht?« – fragte ich meinen Lehrer.
»Der Schluß ist unweise« erwiederte er, »was hat der Schwan
davon, im Singen zu vergeh'n? Er schadet sich damit und nützt
der Rose nichts. Ich würde geendet haben:
Er faßt sie mit dem Schnabel
Und trägt sie mit sich fort!«