Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil

Freitag, 27. April.

Bim bam, bim bam, kling, ling, ling . . . Der Einzug der Karawanen! . . . Das Glockenspiel, hier die ständige Musik um Sonnenaufgang, weckt mich diesmal kaum, und morgen werde ich es wahrscheinlich wie alle anderen Laute überhaupt nicht mehr hören.

Heute ist ein Freitag, das heißt der Sonntag des Muselmanns, so kann ich also keine Reisevorbereitungen treffen, alles ist geschlossen.

Ein zufälliges Ereignis des heutigen Morgens wird von Wichtigkeit für unser puritanisches Leben: mein Diener erzählt mir, daß auf dem Nachbardach, einem terrassenförmigen Dach, auf dem wir bis jetzt nur einige nachdenkliche Katzen sahen, zwei Paar grünseidene Strümpfe und ein Paar Damenpluderhosen zum Trocknen aufgehängt sind; vor Hereinbruch der Nacht wird wahrscheinlich jemand hinaufsteigen, um sie zu holen, und wenn wir auf der Lauer liegen, haben wir dann vielleicht Gelegenheit, eine der geheimnisvollen Nachbarinnen zu sehen.

Um die Sitte der guten Bürger von Chiraz zu beobachten, laßt uns diesen Freitagmorgen dazu benutzen, einen Ausflug aufs Land zu machen (man verläßt die Stadt durch die großen, spitzbogigen Tore, oder, wenn man es vorzieht, durch die zahlreichen Öffnungen in den Wällen, wo der ständige Durchzug der Karawanen wirkliche Pfade getreten hat). Und dann liegt die Ebene vor uns, die weite Ebene, die überall von wild zerklüfteten Bergen umgeben, die von allen Seiten so hoch eingeschlossen ist, als wäre sie nur der unendlich große Garten eines eifersüchtigen Persers. Das Grün des Grases und des Getreides, das frische Grün der Pappelwände unterbricht zuweilen das ewige Grau der Landschaft; aber man kann trotzdem sagen, daß dieses sehr weiche, oft rosa schattierte Grau alles in Chiraz beherrscht, den Boden der Felder, die Erde oder die Steinmauern. Über den hohen, fast verfallenen Wällen, von denen wir uns allmählich entfernen, erheben sich in gewissen Abständen ganz kleine, spindelförmige, blau und grün glasierte Obelisken. Und je weiter wir reiten, um so deutlicher tauchen die großen Kuppeln der Moscheen aus der grauen Stadt auf. Auch sie zeigen dieselbe Farbe, die ewig gleiche blaugrüne Glasur. Unter dem bleichen, reinen Himmel ziehen sich gleich Katzenschwänzen weiße Wolken von der Durchsichtigkeit ganz leichter Gewebe dahin. In diesem hochgelegenen Lande sind die Farben aller Gegenstände zuweilen so zart, daß uns jede Bezeichnung für sie fehlt, und dem Licht, der Ruhe dieses Morgens haftet etwas unaussprechlich Weiches, Paradiesisches an. Trotzdem ist dies alles traurig, – und zwar tragen hieran schuld: die Abgeschiedenheit von aller Welt, die alles einschließende Kette der Berge, das Geheimnis der langen Mauern, der ewige schwarze Schleier, die ewige Maske vor dem Antlitz der Frau.

Da heute, wie gesagt, mohammedanischer Sonntag ist, ergehen sich alle Frauen von Chiraz, gleich schwarzgekleideten Gespenstern, in der hellen Ebene, schon vom frühen Morgen an richten sie ihre Schritte nach den großen, eingeschlossenen Gärten, nach dem Paradiese, das uns nicht zugänglich ist, und dort entfernen sie ihren Schleier und ihre Maske, um in Freiheit in den Orangen-, Zypressen- und Rosenalleen lustwandeln zu können, wir aber werden sie nicht sehen. Auf dem Wege, dem wir folgen, ertönt das Glockenspiel von tausend kleinen Glöckchen, eine verspätete Maultier-Karawane zieht zu ungewohnter Stunde zur Stadt hinein. Und in der Ferne sieht man die Straße, die gen Ispahan führt, sieht man wie immer den Zug der Esel und der Kamele, den Zug, der dies Land mit dem Persien des Nordens verbindet.

Die Frauen, die hier dem Rosenpflücken entgegeneilen, sind von verschiedenem Rang; aber alle tragen sie den schwarzen Schleier, alle sind sie in Trauergewänder gehüllt. Nur ganz in der Nähe, wenn man die Hand, den Pantoffel, die mehr oder weniger feinen, die mehr oder weniger stramm sitzenden Strümpfe beobachtet, entdeckt man den Unterschied. Zuweilen reitet eine der vornehmen Damen, in grünseidenen Strümpfen, ganz mit Ringen übersät, auf einem weißen Maultier oder einer weißen Eselin, die ein Diener am Zügel führt. Das Tier trägt eine goldgefranste Decke. Die Kinder dieser unsichtbaren Schönen folgen ihr zu Fuß; die kleinen Knaben, sogar die allerkleinsten, sehen sehr wichtig aus mit ihren hohen Astrachanhüten und ihren gar zu langen Kleidern; die kleinen Mädchen sind fast alle entzückend, besonders die zwölfjährigen, sie verhüllen noch nicht ihr Gesicht, tragen aber schon einen schwarzen Schleier, unter dem sie sich sofort in drolliger Verwirrung verbergen, sobald man sie ansieht.

Das ganze schöne Geschlecht verschwindet durch die bogenförmigen Pforten hinter den Mauern der Gärten, wo sie alle den übrigen Teil des Tages verbringen werden.

Bald sind wir allein mit den einfachen Leuten in einer Ebene, deren graue Töne durch Rosa und zartes Grün belebt werden; über uns wölbt sich ein wunderbarer Himmel. Aber man sieht nichts mehr; wir kehren deshalb in die alte Stadt mit ihren Lehmwällen und ihren Glasurbekleidungen durch irgendeine Öffnung in der Mauer zurück. Sobald wir das überdachte Labyrinth erreicht haben, ist es dunkel und schwül. Das Labyrinth ist fast menschenleer. Die Traurigkeit eines Sonntags liegt über Chiraz, eine Traurigkeit, die hier noch weit empfindlicher ist, als in den westlichen Städten. Besonders dunkel ist der große Basar, wie er in dem Schatten seiner steinernen Gewölbe daliegt; in den langen Alleen begegnet man keiner lebenden Seele, alle Läden sind mit alten Holzjalousien verrammelt, mit dicken, uralten Riegeln verschlossen, hier herrscht das Schweigen, der Schrecken der Katakomben; der Druck, der über Chiraz liegt, wird an einem solchen Tage zur Angst, und wir empfinden die größte Lust, koste es, was es wolle, davonzulaufen und von neuem das Wanderleben unter freiem Himmel, in einem großen Raum, aufzunehmen . . .

Was soll man heute beginnen? Nach dem Mittagsschläfchen wollen wir bei dem guten Hadji-Abbas eine Kalyan rauchen und einen gefrorenen Sorbet trinken, er hat uns versprochen, uns einen dieser Tage zu den Gräbern des Dichters Saadi und des edlen Hafiz zu führen.

Und dann geht's zu den van L...s, ich empfinde fast etwas wie Freude, heute nachmittag Leute, die mir verwandt sind, um einen Fünf-Uhr-Teetisch versammelt, wiederzufinden. Sie erzählen mir diesmal, daß es noch weitere drei Europäer in Chiraz, dort unten in den Gärten der Vorstadt gibt: einen englischen Missionar mit seiner Frau, einen jungen englischen Arzt, der einsam lebe und den Armen hilft. – Und dann teilt Madame van L. mir ihren Traum mit, sich ein Klavier kommen zu lassen, man hat ihr ein zerlegbares Klavier versprochen, das stückweise auf Karawanenmaultiere geladen werden könnte! . . . Ein Klavier in Chiraz, welch ein Unsinn! Nein, ich kann mir das Klavier, und sei es auch zerlegbar, nicht zu nächtlicher Stunde die zerklüfteten Felstreppen Irans hinanreitend, vorstellen.

In der Wohnung, wo wir uns zur Stunde des Moghreb verbarrikadieren, stehen uns im Laufe des Abends zwei Ereignisse bevor. Die Ausrufer, oberhalb der Stadt, haben kaum ihr Abendgebet gesungen, als auch schon der Diener ganz aufgeregt in mein Zimmer stürzt: »Die Dame, die die grünen Strümpfe trocknet, ist auf dem Dach!« Und ich folge ihm eilend . . . In der Tat, die Dame steht da, aber ihr Rücken ist in ganz gewöhnlichen Kattun gehüllt und ihr Kopf mit einem Tuch bedeckt, dieser Anblick ist schon enttäuschend für uns . . . Sie wendet sich um und sieht uns spöttisch an, als wolle sie sagen: »Meine Nachbarn, geniert euch doch nicht!« Sie ist in den Siebzigern und zahnlos; wahrscheinlich irgendeine alte Dienerin . . . Waren wir so naiv, zu glauben, daß eine Schöne auf das Dach steigen und sich der Gefahr, gesehen zu werden, aussetzen würde!

Zwei Stunden später; es ist ganz dunkel, und auf all den alten Mauern in der Umgegend stimmen die Käuze ihr Lied an. Die Kerzen brennen; durch die geöffneten Fenster sieht man hinaus in das durchsichtige Dunkel, ich nehme in Gesellschaft meines Dieners, an dessen Nähe ich mich in den Karawansereien gewöhnt habe, und der mein ständiger Begleiter geworden ist, eine einfache Abendmahlzeit ein. Ein kleiner Sperling dringt plötzlich mit unruhigem Flügelschlag zu uns herein und fällt auf einen Strauß Monatsrosen, – jenen Rosen, die in Chiraz so allgemein sind, und die jetzt unseren bescheidenen Tisch schmücken. An einer unsichtbaren Wunde muß er leiden, denn sein ganzer kleiner Körper zittert. Da wir ihm nicht helfen können, bleiben wir unbeweglich sitzen, um ihn wenigstens nicht zu erschrecken. Und einen Augenblick später stirbt er auf demselben Platz vor unseren Augen, es ist vorbei, sein Kopf fällt in die Rosen zurück. Irgendein giftiges Tier wird ihn gestochen haben, folgert mein braver Tischgenosse.

Möglich, oder es mag auch eine Katze gewesen sein, die auf ihrem nächtlichen Streifzug diesen Mord begangen hat. Aber ich weiß nicht, warum dieser ganz schwache Todeskampf auf diesen Blumen so traurig zu beobachten war, und meine beiden Perser, die uns bedienten, sahen hierin eine üble Vorbedeutung.

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