Zweiter Teil
Dienstag, 1. Mai.
Bereits vor Hereinbruch der Morgendämmerung saßen wir zu
Pferde, und die aufgehende Sonne findet uns in den Ruinen
eines uralten, aus grauen Vorzeiten stammenden Palastes
wieder. Auf den Basreliefs sind die Stellungen, die
Bewegungen, die Kämpfe und die Todesangst der Menschen und
Tiere, wie sie vor Tausenden von Jahren lebten, verewigt. Die
Ruinen liegen am Fuße der Berge, die im Norden die Ebene von
Chiraz einschließen; auf einem dürren, staubigen, von der
Sonne verbrannten Plateau sind sie immer mehr dem Verfall
anheimgegeben; man sieht, daß hier große Säulenreihen,
mächtige Mauern gestanden haben, aber alles ist so verwischt,
daß sich kein übersichtlicher Plan aus dem Ganzen herauslöst;
was früher das Werk menschlicher Hände war, geht jetzt in die
einfache Felswand über; unter dem Staub und Trümmerhaufen
sieht man noch zuweilen die Darstellung einer Jagd oder einer
Schlacht, sie ist in ein Mauerstück gehauen; die Ornamentik
der Friese, weit gröber zwar, erinnert an die Denkmäler
Thebens: man könnte glauben, es seien ägyptische, sehr naive
Zeichnungen, die von Barbaren wiedergegeben wurden. Der
Palast, der heute keinen Namen mehr trägt, beherrscht ein
kühles Tal, wo das Gebirgswasser zwischen Schilf und Weiden
dahinfließt, und am anderen Ufer des kleinen Flusses, den
Ruinen, auf denen wir stehen, gegenüber, erhebt sich ein
senkrechter Berg, der mit den gleichen Figuren der Felswand
geschmückt ist. Menschen mit Bischofmützen, sie strecken die
verstümmelten Arme in die Luft, sie rufen und machen
unverständliche Zeichen. Welcher Monarch mag hier gewohnt
haben? Welcher Monarch ist verschwunden, ohne eine Spur in der
Geschichte zu hinterlassen? Ich glaubte, daß diese Ruinen, die
mir fast ganz unbekannt waren, und auf die ich durch
Hadji-Abbas aufmerksam gemacht wurde, von Achämenides
herstammten; aber würde dieser Herrscher der Erde sich mit
einer so plumpen, so einfachen Wohnung zufriedengegeben haben?
Nein, dies alles muß auf die graue Vorzeit zurückzuführen
sein. Nirgends sieht man eine Inschrift, und nur den
angestrengtesten Nachforschungen würde es gelingen, diesen
Steinen ihr Geheimnis zu entlocken. Aber solche Trümmer
genügen, um zu beweisen, daß die Hochländer Chiraz' von
Anbeginn an der Mittelpunkt menschlicher Tätigkeit waren. Nach
Aussage meiner chirazianischen Freunde gibt es auch in den
Höfen gewisser Moscheen geheimnisvolle, vorgeschichtliche
Grundmauern, altehrwürdige, gehauene Porphyre, deren Alter
niemand zu sagen weiß, und nach all diesem könnte man
annehmen, daß die Gründung der Stadt noch viel früher
stattgefunden haben muß, als um das Jahr 695 nach unserer
Zeitrechnung – das die mohammedanische Chronologie als
Gründungsjahr festgesetzt hat.
Kurz nur war der Besuch, den wir diesen Palästen abstatten
durften, dann kehrten wir mit verhängtem Zügel zurück, um noch
mit dem Pferdehändler verhandeln, um noch wenigstens den
Versuch machen zu können, die nötigsten Reisevorbereitungen zu
treffen.
In dem Augenblick, wo die Ausrufer ihr Mittagsgebet gen
Himmel senden, langen wir wieder zu Hause an. Der Mittag ist
heißer als gewöhnlich; wir haben heute den ersten Mai und man
fühlt den Sommer nahen. »Allahu akbar!« Von meinem Fenster aus
sehe ich den Sänger der nächsten Moschee, sein Anblick ist mir
schon bekannt; ein Mann in einem grünen Gewande mit einem
grauen Bart, ein wenig alt zwar für einen Gebetsausrufer, aber
seine gellende Stimme entzückt noch immer. Hoch steht er dort
oben auf der grasbewachsenen Terrasse, doch nicht vom Himmel,
sondern von der alles einschließenden, aschgrauen Gebirgskette
hebt er sich ab. Unbekümmert läßt ihn die brennende Sonne, das
Gesicht gegen den blauen Zenit gewandt, stößt er seinen
langen, melancholischen Schrei in das Schweigen, in das Licht
hinaus, und seine Töne verschlingen für mich all die anderen,
die zur selben Stunde von den verschiedensten Punkten Chiraz'
aus gen Himmel steigen. Nachdem er geendet hat, höre ich in
der Ferne eine andere, eine ganz frische, ganz junge Stimme
erklingen, für Augenblicke zittert sie in der Luft, dann
schweigt auch sie, und der mittägliche Todesschlaf senkt sich
über die Stadt hernieder. Von dem wunderbaren Himmel heben
sich zartweiße Wölkchen ab, gleich Vögeln schweben sie dahin,
gepeitscht von einem glühenden Wind. . . .
Nach einer anderthalbstündigen Unterhaltung, die sich
hauptsächlich um zwei weitere Pferde dreht, ist mein
Reisekontrakt endlich niedergeschrieben, auf unverständlichem
Persisch auf eine Seite gezwängt, unterzeichnet und gesiegelt.
Morgen soll der Aufbruch stattfinden, und obgleich ich
eigentlich gar nicht mehr daran glaube, mache ich mich doch
schnell auf den Weg nach dem Teppichbasar, um für die Reise
einige chirazianische Quersäcke zu kaufen, die mit ihrem
Gewebe von bunter Wolle für jeden Reisenden, der etwas auf
sich hält, unentbehrlich sind. In die lange, halbdunkle Straße
sickern die Sonnenstrahlen durch Löcher in dem Gewölbe herab,
und lassen die kolibribunten Gebetteppiche hier und da in
grellem Licht aufleuchten. Hier treffe ich auch Hadji-Abbas
mit zwei oder drei Honoratioren; wir bleiben stehen, tauschen
Höflichkeitsreden aus, und da es der letzte Tag ist, rauchen
wir zusammen eine Abschieds-Kalyan und trinken eine kleine,
ganz kleine Tasse Tee. – Als Stätte für dieses Rauchfest haben
wir in der Nähe der Silberschmiede einen jener sehr kleinen
Plätze gewählt, die in gewissen Abständen unter freiem Himmel,
mitten in der drückenden, schattenreichen Stadt gelegen sind,
und die für jeden eine Überraschung in Bereitschaft halten:
eine Flut von Licht und einen plätschernden Springbrunnen,
umgeben von blühenden Orangenbäumen und Rosensträuchern.
Der Vezir von Chiraz, der endlich in seine gute Stadt
zurückgekehrt ist, hat mir heute morgen sagen lassen, daß er
mich noch heute, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, was bei uns
ungefähr fünf Uhr nachmittags bedeutet, zu sehen wünsche. Er
wohnt sehr weit von mir entfernt, in dem Stadtteil der
Würdenträger. Mitten in einer langen, grauen Mauer liegt ein
Spitzbogen, dieser wird bewacht von vielen Soldaten und
Dienern, die alle auf teppichbelegten Bänken sitzen, er dient
als erstes Eingangstor zu dem Palast. Zuerst schreite ich
durch die Orangenallee eines Gartens, und erreiche schließlich
das ganz mit Fayencen bekleidete Wohnhaus, das abwechselnd
große, buntfarbige Porträts und kleinere rosenbemalte Flächen
zeigt. Wächter, verschiedene Diener mit großen Astrachanmützen
stehen Posten vor der Tür des schönen glasierten Hauses, und
auf den Fliesen des Vorraumes liegen ungezählte türkische
Babuschen. Die Fliesen sind wie immer so auch hier mit Rosen,
über und über mit Rosen bemalt. In dem Salon ist die Decke zu
einem Tropfsteingewölbe geformt, man sieht viele rote
Brokatdiwane, und die Erde ist mit ganz feinen,
sammetähnlichen Teppichen bedeckt. Nachdem ich neben dem
liebenswürdigen Vezir Platz genommen habe, bringt man, wie für
Alladin, für jeden von uns eine aus Gold ziselierte Kalyan und
in einem goldenen Glase, auf einem chirazianischen
Mosaiktischchen einen geeisten Sorbet. Viele Menschen kommen
herbei, schweigend grüßen sie uns, setzen sich auf ihre Fersen
und bilden einen Kreis. Die orientalische Etikette verlangt,
daß der Besuch ein wenig lang sei, und darüber braucht man
sich nicht zu beklagen, wenn der Wirt, wie hier, zugleich
intelligent und vornehm ist. Man spricht von Indien, wo ich
eben gewesen bin, der Vezir fragt mich nach der dort
herrschenden Hungersnot, nach der Pest, deren Nachbarschaft
ihn beunruhigt. – »Ist es wahr, daß die Engländer aus Bosheit
Pestkranke nach Arabien geschickt haben, um dort die
Ansteckung zu verbreiten?« Ich weiß nicht, wie ich hierauf
antworten soll. Als ich durch Maskat kam, lautete das
allgemeine Gerücht also, aber die Anschuldigung ist
übertrieben. Dann beklagt er den immer mehr schwindenden
französischen Einfluß in dem Persischen Golf, wo unsere Flagge
fast nie mehr zu sehen ist. Und nichts macht mich in
peinlicherer Weise darauf aufmerksam, wie sehr wir in den
Augen der Fremden gesunken sind, als die mitleidige Stimme,
mit der er mich fragt: »Haben Sie noch einen Konsul in
Maskat?«
Was meine Reiseangelegenheiten nach Ispahan betrifft, so
stellt der Vezir mir bereitwilligst eine berittene
Begleitmannschaft zur Verfügung; aber ob sie morgen schon
werden aufbrechen können, das kann Allah allein sagen! . . .
Abends beantworten lange Schreie den Gesang der
Gebetsausrufer, der laute Lärm vieler menschlicher Stimmen
steigt von unten aus dem Schatten der Moscheen gen Himmel. Die
Fastenzeit hat begonnen, und die religiöse Begeisterung wird
sich bis zu dem Tage des allgemeinen Schlußrausches steigern,
wo man sich die Brust zerfleischt und den Schädel verwundet.
Seitdem der verbotene, verfolgte Babismus in Persien
eingedrungen ist, befindet sich der Fanatismus derjenigen, die
noch schiitische Muselmänner geblieben sind und besonders
aller derjenigen, die es noch zu sein vorgeben, in stetem
Wachsen.
Da es aber vielleicht mein letzter Tag in Chiraz ist, gehe
ich abends, gegen den Rat meiner vorsichtigen Diener, noch
einmal allein aus. Die Eingeschlossenheit und die Traurigkeit
meines Hauses fallen mir auf die Nerven, und ich verspüre
große Lust, das kleine Café außerhalb der Mauern mit seinen
rosenroten Fayenzen aufzusuchen und mir meine Kalyan geben
geben zu lassen.
Der Anblick dieses Platzes, den ich niemals bei
Laternenbeleuchtung gesehen habe, bringt mich sofort außer
Fassung. Er ist überfüllt von Menschen, Leute aus dem Volk
oder vom Lande, die dicht gedrängt nebeneinander sitzen. Kaum
finde ich einen Platz in der Nähe der Tür auf einer Bank,
neben einem Stammgast, der mich gewöhnlich mit ausgesuchtester
Höflichkeit empfängt, aber der jetzt kaum auf meinen Gruß
antwortet. Mitten in der Versammlung steht ein Greis mit
leuchtendem Blick, er spricht beredt mit übertriebenen, oft
aber schönen Bewegungen. Niemand raucht, niemand trinkt, man
lauscht seinen Worten und unterstreicht einzelne besonders
rührende, besonders schreckliche Stellen durch leises Wimmern.
Von der nahegelegenen Moschee dringt zuweilen das Geschrei
tausender menschlicher Stimmen zu uns herüber. Augenscheinlich
erzählt der Greis von den Schmerzen, dem Sterben des
HusseinHussein ist ein in Persien verehrter Märtyrer, Sohn des
Ali und Enkel des Propheten Mahomet., dessen Namen er immer
wiederholt: es ist, als wenn bei uns der Prediger von der
Leidensgeschichte Christi erzählt.
Plötzlich ruft mein Nachbar, mein früherer Freund, der mich
kaum eines Blickes würdigt, mir leise auf türkisch zu: »Geht.«
»Geht!« Es wäre lächerlich, ja unvorsichtig, länger zu
bleiben; diese Leute brauchen ja keinen Ungläubigen bei ihrer
frommen Abendandacht zu dulden.
So gehe ich. Von neuem umschließt mich das Schweigen und
die Dunkelheit, ich stehe inmitten der baufälligen Wände,
inmitten des Labyrinths überdachter Gäßchen. Wie der kleine
Däumling im Walde muß ich auf jedes Zeichen achten, das ich
mir gemerkt habe, um die gähnenden Löcher unter meinen Füßen
zu vermeiden, das ich mir gemerkt habe, um in die richtigen
Gänge einbiegen zu können; ich schreite langsam vorwärts,
strecke wie ein Blinder die Arme vor mich hin, und begegne auf
meinem Wege keinem anderen lebenden Wesen, als den vor mir
fliehenden Katzen, die zu dieser Stunde auf nächtlichen Raub
ausgehen.
Und niemals habe ich in einem Land des Islam ein solches
Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit gehabt.