Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil

Dienstag, 1. Mai.

Bereits vor Hereinbruch der Morgendämmerung saßen wir zu Pferde, und die aufgehende Sonne findet uns in den Ruinen eines uralten, aus grauen Vorzeiten stammenden Palastes wieder. Auf den Basreliefs sind die Stellungen, die Bewegungen, die Kämpfe und die Todesangst der Menschen und Tiere, wie sie vor Tausenden von Jahren lebten, verewigt. Die Ruinen liegen am Fuße der Berge, die im Norden die Ebene von Chiraz einschließen; auf einem dürren, staubigen, von der Sonne verbrannten Plateau sind sie immer mehr dem Verfall anheimgegeben; man sieht, daß hier große Säulenreihen, mächtige Mauern gestanden haben, aber alles ist so verwischt, daß sich kein übersichtlicher Plan aus dem Ganzen herauslöst; was früher das Werk menschlicher Hände war, geht jetzt in die einfache Felswand über; unter dem Staub und Trümmerhaufen sieht man noch zuweilen die Darstellung einer Jagd oder einer Schlacht, sie ist in ein Mauerstück gehauen; die Ornamentik der Friese, weit gröber zwar, erinnert an die Denkmäler Thebens: man könnte glauben, es seien ägyptische, sehr naive Zeichnungen, die von Barbaren wiedergegeben wurden. Der Palast, der heute keinen Namen mehr trägt, beherrscht ein kühles Tal, wo das Gebirgswasser zwischen Schilf und Weiden dahinfließt, und am anderen Ufer des kleinen Flusses, den Ruinen, auf denen wir stehen, gegenüber, erhebt sich ein senkrechter Berg, der mit den gleichen Figuren der Felswand geschmückt ist. Menschen mit Bischofmützen, sie strecken die verstümmelten Arme in die Luft, sie rufen und machen unverständliche Zeichen. Welcher Monarch mag hier gewohnt haben? Welcher Monarch ist verschwunden, ohne eine Spur in der Geschichte zu hinterlassen? Ich glaubte, daß diese Ruinen, die mir fast ganz unbekannt waren, und auf die ich durch Hadji-Abbas aufmerksam gemacht wurde, von Achämenides herstammten; aber würde dieser Herrscher der Erde sich mit einer so plumpen, so einfachen Wohnung zufriedengegeben haben? Nein, dies alles muß auf die graue Vorzeit zurückzuführen sein. Nirgends sieht man eine Inschrift, und nur den angestrengtesten Nachforschungen würde es gelingen, diesen Steinen ihr Geheimnis zu entlocken. Aber solche Trümmer genügen, um zu beweisen, daß die Hochländer Chiraz' von Anbeginn an der Mittelpunkt menschlicher Tätigkeit waren. Nach Aussage meiner chirazianischen Freunde gibt es auch in den Höfen gewisser Moscheen geheimnisvolle, vorgeschichtliche Grundmauern, altehrwürdige, gehauene Porphyre, deren Alter niemand zu sagen weiß, und nach all diesem könnte man annehmen, daß die Gründung der Stadt noch viel früher stattgefunden haben muß, als um das Jahr 695 nach unserer Zeitrechnung – das die mohammedanische Chronologie als Gründungsjahr festgesetzt hat.

Kurz nur war der Besuch, den wir diesen Palästen abstatten durften, dann kehrten wir mit verhängtem Zügel zurück, um noch mit dem Pferdehändler verhandeln, um noch wenigstens den Versuch machen zu können, die nötigsten Reisevorbereitungen zu treffen.

In dem Augenblick, wo die Ausrufer ihr Mittagsgebet gen Himmel senden, langen wir wieder zu Hause an. Der Mittag ist heißer als gewöhnlich; wir haben heute den ersten Mai und man fühlt den Sommer nahen. »Allahu akbar!« Von meinem Fenster aus sehe ich den Sänger der nächsten Moschee, sein Anblick ist mir schon bekannt; ein Mann in einem grünen Gewande mit einem grauen Bart, ein wenig alt zwar für einen Gebetsausrufer, aber seine gellende Stimme entzückt noch immer. Hoch steht er dort oben auf der grasbewachsenen Terrasse, doch nicht vom Himmel, sondern von der alles einschließenden, aschgrauen Gebirgskette hebt er sich ab. Unbekümmert läßt ihn die brennende Sonne, das Gesicht gegen den blauen Zenit gewandt, stößt er seinen langen, melancholischen Schrei in das Schweigen, in das Licht hinaus, und seine Töne verschlingen für mich all die anderen, die zur selben Stunde von den verschiedensten Punkten Chiraz' aus gen Himmel steigen. Nachdem er geendet hat, höre ich in der Ferne eine andere, eine ganz frische, ganz junge Stimme erklingen, für Augenblicke zittert sie in der Luft, dann schweigt auch sie, und der mittägliche Todesschlaf senkt sich über die Stadt hernieder. Von dem wunderbaren Himmel heben sich zartweiße Wölkchen ab, gleich Vögeln schweben sie dahin, gepeitscht von einem glühenden Wind. . . .

Nach einer anderthalbstündigen Unterhaltung, die sich hauptsächlich um zwei weitere Pferde dreht, ist mein Reisekontrakt endlich niedergeschrieben, auf unverständlichem Persisch auf eine Seite gezwängt, unterzeichnet und gesiegelt. Morgen soll der Aufbruch stattfinden, und obgleich ich eigentlich gar nicht mehr daran glaube, mache ich mich doch schnell auf den Weg nach dem Teppichbasar, um für die Reise einige chirazianische Quersäcke zu kaufen, die mit ihrem Gewebe von bunter Wolle für jeden Reisenden, der etwas auf sich hält, unentbehrlich sind. In die lange, halbdunkle Straße sickern die Sonnenstrahlen durch Löcher in dem Gewölbe herab, und lassen die kolibribunten Gebetteppiche hier und da in grellem Licht aufleuchten. Hier treffe ich auch Hadji-Abbas mit zwei oder drei Honoratioren; wir bleiben stehen, tauschen Höflichkeitsreden aus, und da es der letzte Tag ist, rauchen wir zusammen eine Abschieds-Kalyan und trinken eine kleine, ganz kleine Tasse Tee. – Als Stätte für dieses Rauchfest haben wir in der Nähe der Silberschmiede einen jener sehr kleinen Plätze gewählt, die in gewissen Abständen unter freiem Himmel, mitten in der drückenden, schattenreichen Stadt gelegen sind, und die für jeden eine Überraschung in Bereitschaft halten: eine Flut von Licht und einen plätschernden Springbrunnen, umgeben von blühenden Orangenbäumen und Rosensträuchern.

Der Vezir von Chiraz, der endlich in seine gute Stadt zurückgekehrt ist, hat mir heute morgen sagen lassen, daß er mich noch heute, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, was bei uns ungefähr fünf Uhr nachmittags bedeutet, zu sehen wünsche. Er wohnt sehr weit von mir entfernt, in dem Stadtteil der Würdenträger. Mitten in einer langen, grauen Mauer liegt ein Spitzbogen, dieser wird bewacht von vielen Soldaten und Dienern, die alle auf teppichbelegten Bänken sitzen, er dient als erstes Eingangstor zu dem Palast. Zuerst schreite ich durch die Orangenallee eines Gartens, und erreiche schließlich das ganz mit Fayencen bekleidete Wohnhaus, das abwechselnd große, buntfarbige Porträts und kleinere rosenbemalte Flächen zeigt. Wächter, verschiedene Diener mit großen Astrachanmützen stehen Posten vor der Tür des schönen glasierten Hauses, und auf den Fliesen des Vorraumes liegen ungezählte türkische Babuschen. Die Fliesen sind wie immer so auch hier mit Rosen, über und über mit Rosen bemalt. In dem Salon ist die Decke zu einem Tropfsteingewölbe geformt, man sieht viele rote Brokatdiwane, und die Erde ist mit ganz feinen, sammetähnlichen Teppichen bedeckt. Nachdem ich neben dem liebenswürdigen Vezir Platz genommen habe, bringt man, wie für Alladin, für jeden von uns eine aus Gold ziselierte Kalyan und in einem goldenen Glase, auf einem chirazianischen Mosaiktischchen einen geeisten Sorbet. Viele Menschen kommen herbei, schweigend grüßen sie uns, setzen sich auf ihre Fersen und bilden einen Kreis. Die orientalische Etikette verlangt, daß der Besuch ein wenig lang sei, und darüber braucht man sich nicht zu beklagen, wenn der Wirt, wie hier, zugleich intelligent und vornehm ist. Man spricht von Indien, wo ich eben gewesen bin, der Vezir fragt mich nach der dort herrschenden Hungersnot, nach der Pest, deren Nachbarschaft ihn beunruhigt. – »Ist es wahr, daß die Engländer aus Bosheit Pestkranke nach Arabien geschickt haben, um dort die Ansteckung zu verbreiten?« Ich weiß nicht, wie ich hierauf antworten soll. Als ich durch Maskat kam, lautete das allgemeine Gerücht also, aber die Anschuldigung ist übertrieben. Dann beklagt er den immer mehr schwindenden französischen Einfluß in dem Persischen Golf, wo unsere Flagge fast nie mehr zu sehen ist. Und nichts macht mich in peinlicherer Weise darauf aufmerksam, wie sehr wir in den Augen der Fremden gesunken sind, als die mitleidige Stimme, mit der er mich fragt: »Haben Sie noch einen Konsul in Maskat?«

Was meine Reiseangelegenheiten nach Ispahan betrifft, so stellt der Vezir mir bereitwilligst eine berittene Begleitmannschaft zur Verfügung; aber ob sie morgen schon werden aufbrechen können, das kann Allah allein sagen! . . .

Abends beantworten lange Schreie den Gesang der Gebetsausrufer, der laute Lärm vieler menschlicher Stimmen steigt von unten aus dem Schatten der Moscheen gen Himmel. Die Fastenzeit hat begonnen, und die religiöse Begeisterung wird sich bis zu dem Tage des allgemeinen Schlußrausches steigern, wo man sich die Brust zerfleischt und den Schädel verwundet. Seitdem der verbotene, verfolgte Babismus in Persien eingedrungen ist, befindet sich der Fanatismus derjenigen, die noch schiitische Muselmänner geblieben sind und besonders aller derjenigen, die es noch zu sein vorgeben, in stetem Wachsen.

Da es aber vielleicht mein letzter Tag in Chiraz ist, gehe ich abends, gegen den Rat meiner vorsichtigen Diener, noch einmal allein aus. Die Eingeschlossenheit und die Traurigkeit meines Hauses fallen mir auf die Nerven, und ich verspüre große Lust, das kleine Café außerhalb der Mauern mit seinen rosenroten Fayenzen aufzusuchen und mir meine Kalyan geben geben zu lassen.

Der Anblick dieses Platzes, den ich niemals bei Laternenbeleuchtung gesehen habe, bringt mich sofort außer Fassung. Er ist überfüllt von Menschen, Leute aus dem Volk oder vom Lande, die dicht gedrängt nebeneinander sitzen. Kaum finde ich einen Platz in der Nähe der Tür auf einer Bank, neben einem Stammgast, der mich gewöhnlich mit ausgesuchtester Höflichkeit empfängt, aber der jetzt kaum auf meinen Gruß antwortet. Mitten in der Versammlung steht ein Greis mit leuchtendem Blick, er spricht beredt mit übertriebenen, oft aber schönen Bewegungen. Niemand raucht, niemand trinkt, man lauscht seinen Worten und unterstreicht einzelne besonders rührende, besonders schreckliche Stellen durch leises Wimmern. Von der nahegelegenen Moschee dringt zuweilen das Geschrei tausender menschlicher Stimmen zu uns herüber. Augenscheinlich erzählt der Greis von den Schmerzen, dem Sterben des HusseinHussein ist ein in Persien verehrter Märtyrer, Sohn des Ali und Enkel des Propheten Mahomet., dessen Namen er immer wiederholt: es ist, als wenn bei uns der Prediger von der Leidensgeschichte Christi erzählt.

Plötzlich ruft mein Nachbar, mein früherer Freund, der mich kaum eines Blickes würdigt, mir leise auf türkisch zu: »Geht.«

»Geht!« Es wäre lächerlich, ja unvorsichtig, länger zu bleiben; diese Leute brauchen ja keinen Ungläubigen bei ihrer frommen Abendandacht zu dulden.

So gehe ich. Von neuem umschließt mich das Schweigen und die Dunkelheit, ich stehe inmitten der baufälligen Wände, inmitten des Labyrinths überdachter Gäßchen. Wie der kleine Däumling im Walde muß ich auf jedes Zeichen achten, das ich mir gemerkt habe, um die gähnenden Löcher unter meinen Füßen zu vermeiden, das ich mir gemerkt habe, um in die richtigen Gänge einbiegen zu können; ich schreite langsam vorwärts, strecke wie ein Blinder die Arme vor mich hin, und begegne auf meinem Wege keinem anderen lebenden Wesen, als den vor mir fliehenden Katzen, die zu dieser Stunde auf nächtlichen Raub ausgehen.

Und niemals habe ich in einem Land des Islam ein solches Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit gehabt.

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