Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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1. Meine Kindheit und meine Schuljahre

Meine Geburt und meine ersten Kinderjahre.

Wenn ich heutzutage auf der Berliner Stadtbahn die kurze Strecke zwischen der Friedrichstraße und der Börse befahre, so wende ich jedesmal den Kopf nach links, sobald der Zug die kleine Universitätsstraße hinter sich gelassen hat. Nach wenigen Sekunden rasselt er an einem unansehnlichen, aber langgestreckten zweistöckigen Gebäude vorüber, das die Südseite einer umfangreichen und im Viereck angelegten Kaserne bildet, deren nördlicher Flügel sich nach dem Spreeufer am entgegengesetzten Ende ausreckt.

Meine Augen bleiben jedesmal an dem ersten Stockwerk hängen, und ich zähle das fünfte Fenster von der Ecke richtig ab. In dem einfachen und schmucklosen Zimmer, das zu dem Fenster gehört, erblickte ich nämlich am 18. Februar 1827 zum ersten Male das Licht der Welt und eine Soldatenfamilie begrüßte die Ankunft des Erstgeborenen mit den heißesten Wünschen für sein Leben und seine Zukunft.

Die Kaserne war damals, wie noch gegenwärtig, für den Aufenthalt von Truppen bestimmt, denn die Fußartillerie und das zweite Garde-Ulanen-Regiment hatten sich darin seßhaft gemacht. Auch die Offiziere des sogenannten Feldjägerkorps besaßen einen kleinen Flügel an der südlichen Seite neben den Ulanen, ganz in der Nähe meiner Geburtsstätte. Ein breites, durchsichtiges Holzgitter bildete die Grenze der Flurgänge zwischen den Jägern und den Ulanen.

Den erwähnten südlichen Teil des ganzen Baues bezeich neten die Berliner als»weiße Ulanen-Kaserne«, den nördlichen als Artillerie-Kaserne.

Auf dem nördlichen Teile des weiten inneren Hofraumes, um den sich das Viereck herumlegte, standen blau angestrichene Kanonen mit ihren blitzenden Messingrohren, während den ganzen westlichen Teil des Hofes lange Ställe für die Pferde der beiden Truppenteile begrenzten.

Der Hof mit seiner ganzen Länge und Breite bot mir in meinen ersten Jahren der Kindheit einen herrlichen Tummelplatz für meine Spiele, zu gleicher Zeit gewährte er mir den täglichen Anblick militärischer Schauspiele durch die Übungen und Parademärsche der Soldaten, an denen ich die höchste Befriedigung fand.

Selbstverständlich war dabei meine ganze Zuneigung den weißen Ulauen zugewandt, bei denen mein Vater, ein stattlicher, schöner Mann, zur Zeit meiner Geburt die Stellung eines Quartiermeisters bekleidete. Vor der Artillerie empfand ich eine gewisse Bangigkeit, da ich der Meinung war, die Kanonen könnten geladen sein und bei den Übungen einmal abgeschossen werden. Das hinderte mich jedoch nicht, den ausgestellten Geschützen in ihren dienstfreien Stunden meinen Besuch abzustatten, an ihren Rädern hinauf zu klettern und auf den blanken Rohren hin und her zu rutschen und mich im Reiten zu versuchen.

Zu meiner Taufe waren drei Offiziere des Regimentes als Zeugen eingeladen. Obgleich mein Vater seinem Glauben nach der katholischen Kirche angehörte, so zog er es dennoch vor, mich der Gemeinschaft der evangelischen Christen zu übergeben und damit die Bitte meiner evangelischen Mutter Dorothea zu erfüllen. Sie war aus Domersleben in der Nähe von Magdeburg gebürtig und die Tochter des Haushofmeisters Schramm, der dem Prinzen Louis von Preußen bis zu dessen in der Schlacht bei Saalfeld erfolgtem Tode seine treuen Dienste geleistet hatte.

Meinem aus Schlesien gebürtigen und strengkatholischen Großvater Johann Karl Brugsch, einem alten ausgedienten Soldaten, der unter Friedrich dem Großen in die Armee eingetreten war und später an sämtlichen Feldzügen der Preußen, den unglücklichen und glücklichen, gegen Napoleon I. teilgenommen hatte, erschien meine beabsichtigte evangelische Taufe als durchaus ungehörig, und er that, wenn auch vergeblich, sein Möglichstes, um meinen Vater von seinem Vorhaben abzubringen. Gegen meine Mutter hegte er einen besonderen Groll, da er sie allein als die Urheberin des Religionswechsels in der Wiege vor Gott und den Menschen verantwortlich machte. Bis zu seinem Tode hin, der in seinem 86. Lebensjahre eintrat, hatte er es nicht über sich gewinnen können, seinen früheren Standpunkt zu ändern und seine gereizte Stimmung abzuschwächen. Sie legte den Grund zu manchen späteren Mißhelligkeiten im stillen Familienleben.

So wurde denn der Täufling in der evangelischen Garnisonkirche in Berlin angemeldet, damit an ihm die heilige Handlung vollzogen werden sollte, als ein unerwartetes Ereignis eintrat, das meine evangelische Gemeinschaft vollständig in den Hintergrund drängte, und zwar aus Rücksichten der Höflichkeit gegen eine fürstliche Person.

Während des letzten Feldzuges gegen Napoleon I. hatte der Fürst Heinrich von Carolath aus Schlesien eine Schwadron der damaligen Vossischen Dragoner geführt, in der mein Großvater als Wachtmeister, mein eigener Vater und seine sechs Brüder als Freiwillige dienten. Zwischen dem Fürsten und seinem Wachtmeister war im Laufe der Feldzüge, an denen sie beide gemeinschaftlich teilgenommen hatten, ein überaus freundschaftliches Verhältnis entstanden, das um so tiefer wurzelte, als auf dem Schlachtfelde von Leipzig die sechs Brüder meines Vaters ihre Treue für König und Vaterland mit ihrem Tode besiegelten, so daß mein überlebender Vater der letzte seines Stammes blieb. Beim Abschied vom Regimente, nach eingetretenem Frieden, nahm der streng religiöse Fürst meinem Vater das Versprechen ab, ihn bei der Geburt seines ersten Kindes als Taufzeugen einzuladen. Er würde auf alle Fälle erscheinen und selbst eine lange Reise nicht scheuen.

Damals gab es noch keine bequemen Eisenbahnen, und die bestehende Postverbindung zwischen Berlin und Carolath erforderte, besonders bei schlechter Jahreszeit, eine längere Zeitdauer. Zwölf Jahre waren außerdem seit der Schlacht von Leipzig dahingeflossen, und es war nicht anzunehmen, daß der Fürst sich um der Taufe eines Soldatenkindes halber den Beschwerden einer weitläuftigen Reise in der Postkutsche aussetzen würde. Nichtsdestoweniger ließ mein Vater den Patenbrief vierzehn Tage vor dem Taufdatum abgehen, und in der Frühe eines Donnerstags erfolgte die Antwort, daß der Fürst sich pünktlich in der katholischen St. Hedwigskirche zu Berlin am nächsten Sonntage einfinden werde, um auf seinen Armen den Täufling zu tragen.

Das traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mein armer Vater hatte nichts Eiligeres zu thun, als mich in der evangelischen Garnisonkirche abzumelden und bei der katholischen St. Hedwigskirche anzumelden und alle Vorbereitungen für den würdigen Empfang des Fürsten zu treffen. Ich habe nur die Vermutung, daß ein besonderes Schreiben meines Großvaters an seinen fürstlichen Freund den Grund des plötzlichen Wechsels abgegeben haben möge.

Beim Verlassen des Gotteshauses steckte der Fürst der Hebamme, die mich hinaustrug, ein Etui in die Hand mit der Weisung, seinen Inhalt – es war sein Porträt in Miniaturmalerei, an einer goldenen Kette – an meinem kleinen Halse zu befestigen und mich, so geschmückt, in die mütterlichen Arme zu legen. Erst vier Jahre später führte der Zufall zu der Entdeckung, daß die ungetreue Hebamme das Kleinod diebischer Weise für sich behalten hatte. Ich weiß nicht zu sagen, ob ich nicht auch das als ein verhängnisvolles Omen auf meinem langen künftigen Lebenswege hätte betrachten können. Die Gründe zu einem solchen Glauben boten mir manche Veranlassungen, über die ich vorläufig mit Stillschweigen hinweggehe.

Meine ersten Kinderjahre verbrachte ich, wie gesagt, unter den weißen Ulanen. Ein strammer Soldat, der brave Mann hieß Streich, der später als ehrsamer Gastwirt in der Stadt Düben die Zeitlichkeit segnete, vertrat die Stelle der Kinderfrau bei mir, und da er mich herzlich lieb gewonnen hatte, so war ich ihm nicht weniger gut und pflegte seine zufällige Abwesenheit jedesmal mit lautem Geschrei zu beklagen. Sobald ich das Laufen erlernt hatte, wurde er aus seiner Stellung verabschiedet. Der große Kasernenhof verwandelte sich zu meinem engeren Heimatslande, soweit mich eben meine Beinchen im Umkreise desselben tragen konnten.

Allmählich drängte auch mein Thatendurst nach der Außenwelt hinaus, zunächst nach dem »Katzenstege«, wie im alten Berlin die heutige Georgenstraße bezeichnet wurde. An der Südseite des Ulanenreviers war eine lange mit Pechanstrich geschwärzte Holzwand aufgebaut, in deren Mitte sich ein Thor mit einem militärischen Posten davor befand. Sie schloß den Katzensteg nach dieser Seite hin ab. Gegenüber standen kleine, unscheinbare Wohnhäuser, hier eins, dort eins, – auch eine Schnapsbude fehlte nicht der Nähe der Kaserne halber, – und in Lücken dazwischen waren kleine Gärten angelegt, in denen grünes Gemüse die Beete ausfüllte und gelbe Sonnenblumen mit ihren langen Stengeln den Hauptschmuck dazwischen bildeten.

Nach dem nahen Spreeufer zu fiel das Auge auf eine kleine, offene Schmiede. In dichter Nähe des Wassers angelegt, erregte sie meine höchste Bewunderung. Ein lederner Blasebalg pustete in das Kohlenfeuer auf dem Herde, daß die Funken sprühten, auf dem Amboß fiel der Hammer des Schmieds auf rotglühende Hufeisen, und die Pferde, die beschlagen werden sollten, standen mitten auf dem Bürgersteig. Da die rußigen Gesellen, die in der Werkstatt hantierten, meinen Freunden, den weißen Ulanen, angehörten, so heimelte mich das Bild doppelt an. Feierte man eine Viertelstunde, so stand ich vor dem eisernen Geländer am Spreeufer neben der Schmiede und bewunderte die langen Reihen von »Zillen«, die mit Torf, Ziegelsteinen oder Heu und Stroh beladen waren und auf dem tintenschwarzen Wasser ihre nasse Straße langsam dahinzogen. Von den neuen Museumsbauten am gegenüber liegenden Ufer war damals noch keine Rede, und das Artem non odit nisi ignarus oder wie ein berühmter, aber seiner Spottsucht halber bekannter Berliner das letzte Wort damals las: Ignatius prangte noch nicht mit seinen vergoldeten Lettern unter dem Giebel des späteren Musentempels.

Der »Katzensteg« besaß, wie ganz Berlin in der damaligen Zeit, ein holperiges Pflaster mit den verrufenen offenen Rinnsteinen zu beiden Seiten des Dammes. Eine übelriechende Jauche, nicht selten wie Zuspeise in der Suppe mit toten Katzen- und Rattenleibern vermengt, dampfte zum Himmel auf, und das grüne Gras, vereint mit zarten Gänseblümchen und lieben Butterblumen wuchs in Hülle und Fülle zwischen den Pflastersteinen hervor.

Unter den Häusern auf der Straßenzeile im Angesicht der weißen Ulanen und meiner eigenen Geburtsstätte war mir eines ganz besonders verhaßt und ich vermied seine Nähe aus sehr triftigen Gründen. Es diente als Lazareth für das Regiment der Garde du Corps und besaß nur wenige Zimmer, in denen die Kranken lagen und mehrere Heilgehilfen die Befehle des Stabsarztes ausführten. Ich litt eines Tages an heftigem Zahnweh; mein Vater führte mich ohne viel Federlesens nach dem kleinen Gebäude, das in der Mitte eines traurigen Gärtchens stand. Ein stämmiger Garde du Corps pflanzte mich auf einen Holzschemel, packte mich mit seinem gewaltigen linken Arme fest und eine mit der rechten Hand in meinen Mund eingeführte Zange riß den leidenden Zahn aus seiner Behausung. Ich habe als Kind seitdem nie mehr über Zahnschmerzen gejammert, denn die kräftige Methode der Heilung blieb mir im steten Gedächtnis zurück.

Die Verlängerung des Katzensteges über die heutige Universitäts- und Stallstraße hinaus zeigte auf beiden Seiten der Gasse den traurigen Anblick von Holzzäunen, die nur vereinzelt von niedrigen Häusern von schmucklosem Aussehen unterbrochen wurden. An der Ecke linker Hand befand sich das Diorama von Gropius, ein Anziehungspunkt erster Größe für die schaulustige Bevölkerung des alten Berlin in der winterlichen Jahreszeit. Besonders in der Weihnachtswoche war der Besuch ein ganz außerordentlicher. Landschaftliche Panoramen mit beweglichen Figuren im Vordergrund, das ganze Manöver von Kalisch der vereinten russischen und preußischen Truppen, lustige Szenen aus dem Volksleben mit Hilfe von Wachspuppen zur Erheiterung der Menge zur Darstellung gebracht, musizierende Kapellen mit lebensgroßen Musikanten aus bemalten und bekleideten Holzpuppen bestehend und ähnliche meist sehr harmlose Schöpfungen bildeten neben einem kleinen Volkstheater die bemerkenswertesten Objekte, die das geehrte Publikum voll Entzücken betrachtete. Später wurde das Diorama nach der gegenüberliegenden Ecke verlegt und der ältere Bau in ein Atelier zur Herstellung von Dekorationsstücken für die königlichen Theater umgewandelt. Eine große Uhr am Giebel diente den Umwohnern und den Straßengängern als unzweifelhaft richtiger Messer der Zeit. Beide Gebäude gingen ein. Das ältere ward durch Feuer verzehrt, sein Nachfolger dagegen heruntergerissen und der freie Platz zum Bau von königlichen Ställen verwertet. Übrigens war, »der alte Gropius«, der Stifter des Dioramas, wie er im Volksmunde hieß, in meinen Kindesjahren eine gefeierte Person in den Augen der Berliner. Ich erinnere mich noch heute seiner gedrungenen Gestalt mit dem graugelockten Goethekopf. Neben dem Diorama zog sich ein Zaun entlang, hinter welchem die Seegersche Reitbahn gelegen war. Die vornehme Sportswelt Berlins, an ihrer Spitze die Herren Offiziere, gab sich hier ein beliebtes Stelldichein, und selbst der Hof verschmähte es nicht, die zeitweise stattfindenden Tourniere und Kostümreiten durch seine Anwesenheit zu verherrlichen. Gegenüber streckte sich eine lange Holzwand mit schwarzem Pechanstrich wie ein ausgespanntes schmutziges Handtuch aus, um einen mächtig großen, mit Gras bewachsenen Platz von der Straßenseite abzuschließen. Die Frauen trockneten auf demselben ihre Wäsche und die liebe Jugend häufte Berge von Sand auf oder schuf Fallgruben von geeigneter Tiefe. Nach links hin, gleich hinter dem breiten Thorwege, erhob sich eine alte Baracke mit dem Kontor des damaligen Berliner Leichenfuhrwesens. Die Schreibstuben lagen zu ebener Erde und die unheimlichen Wagen zur Bestattung der Toten standen unter einem freien Schuppen mit einem hohen, aus Holzplanken zusammengenagelten Satteldache. Die Gefährte hatten die Gestalt gewöhnlicher Holzwagen, über die eine schwarze Trauerdecke ausgebreitet wurde. Bei jedem Begängnis erlitt die Leiche mit ihrem Sarge die schauderhaftesten Erschütterungen, aber niemand kümmerte sich darum und man sah die Sache als etwas Unvermeidliches oder Unschädliches an.

Von diesen Erschütterungen kann ich ein Wörtchen mitsprechen, denn ich und meine Gespielen männlichen und weiblichen Geschlechtes benutzten bei der Ausfahrt irgend eines der Leichenwagen die günstige Gelegenheit, von hinten in das Vehikel hineinzuschlüpfen und eine kostenfreie Spazierfahrt auf dem holperigen Straßenpflaster zu unternehmen. Unsere kindlichen Gebeine wurden dabei gründlich durchrüttelt, aber der Zweck war erreicht und wir fühlten uns überglücklich.

Soweit die Erinnerungen meiner Kindheit reichen, ist mir noch heute die Bewunderung in lebhaftem Gedächtnis geblieben, mit der ich drei häufige Gestalten des alten Straßenlebens zu betrachten pflegte: den Laternenanstecker, den Plundermatz und den Eckensteher.

Der Laternenanstecker fuhr, wenn ich frühmorgens in die Schule ging, mit seiner von Öl triefenden Karre durch den Katzensteg. Die schmierige blecherne Ölkanne nahm den hintersten Teil des rollenden Kastens ein, ein Ölschöpfer hing an ihrem Henkel, eine Lampenscheere, ein Ölmaß, Dochte und schmutzige Lappen ruhten in einem mit verschließbarem Deckel versehenen Holzkästchen am Vorderteile. Eine Holzleiter ruhte außen an der rechten Seite der Karre. Eine Straßenlampe baumelte an einem formlosen Balken, der in den Erdboden eingepflanzt war, und wankte bei starkem Winde hin und her. Im Innern ruhte auf dem Boden die Lampe, mit deren Reinigung und Füllung sich der Lampenmann zu beschäftigen hatte. Die Arbeit nahm eine geraume Zeit in Anspruch und die Phasen der vorschreitenden Vollendung gaben mir Stoff zu tiefen Betrachtungen über die Pflege der Straßenlampen der Großstadt Berlin.

Wenn kein Mondschein im Kalender stand, erschien dieselbe Person in abendlicher Zeit, um ihrem Berufe als Lampenanzünder obzuliegen. Die Leiter ruhte dann auf seiner linken Schulter. Er kletterte auf ihr zur Lampenhöhe empor, tupfte den Schwefelkopf eines Zündholzes in ein rot angestrichenes Fläschchen, dessen Füllung aus Asbest und Vitrioltropfen bestand. Im Nu fing das Hölzchen Feuer, mit dem der Docht angesteckt wurde, wenn nicht sonst erschwerende Umstände in Folge von Wind und Regenwetter eintraten.

Besondere Freude rief in uns Kindern das Erscheinen des Lumpenmatzes hervor. Wenn seine Pfeife auf der Straße ertönte, so stürzte das kleine Volk in das Haus, um schleunigst von der geliebten Mutter leinene Lumpen und Lappen zu erbitten. Der gute Mann, der auf seiner Karre einen Sack und einen länglichen Holzkasten vor sich her schob, kannte genau seine Leute und erwartete mit Ruhe die Rückkehr der Knaben und Mädchen. Das Tauschgeschäft wurde mit allem Ernste durchgeführt und für die gelieferten Stoffe erhielt das junge Volk je nach Wunsch einen buntbedruckten Bilderbogen, zinnerne Ringe mit farbigen Glassteinen, Stecknadeln und dergleichen Dinge als Gegenwert eingehändigt.

Die dritte Straßenerscheinung, die meinen Kinderaugen wie ein Wundertier erschien, war der damalige Eckensteher. Wie sein Name besagt, hatte er seinen Stand an den Ecken der belebtesten Straßen; mit besonderer Vorliebe wählte der dienstbare Geist seinen Platz in unmittelbarer Nähe einer »Destillation« oder »Destille« im Jargon von Neu-Berlin, und seine gerötete Nase bewies die lebendige Teilnahme, die er von Pause zu Pause dem Aufschwung des Geschäfts widmete. Ein blankes Messingschild mit einer weithin sichtbaren Nummer darauf war an einem breiten Band von hellrotem Kattun an seinem linken Arm befestigt und ein derber lederner Tragriemen ruhte auf seinen Schultern. Er bildete in seiner philosophischen Ruhe ein Gegenstück des orientalischen Derwisches und vermochte wie dieser den lieben langen Tag, mit Ausnahme der Kunstpausen in dem benachbarten Fuselladen, im warmen Sonnenschein auszuharren, um seine Kunden zu erwarten. Zu den berühmtesten Exemplaren der damaligen Eckensteher gehörte Nante mit der Nummer 22, der Unter den Linden an dem Eckhause der Großen Friedrichstraße, gegenüber der Kranzlerschen Konditorei, jahrelang seine Stellung behauptete und in einer beliebten Posse: »Der Eckensteher Nante im Verhör« eine Hauptrolle spielte. Wenn der alte Beckmann, der bekannte Komiker, in diesem Stücke im Königstädtischen Theater am Alexanderplatz auftrat, so waren die Plätze bis zum Olymp hinauf mit fröhlichen Zuschauern besetzt. Es war in der Zeit, in welcher der Bierwirt Drucker den tollen Einfall hatte, seine Gäste durch Ponies reitende Kellner bedienen zu lassen, die vornehmere Welt sich »bei Kranzler« oder in den Konditoreien von Stehely, Josty, Spargnapani oder Meier, am Gendarmenmarkt, ein Stelldichein gab und im Kolosseum in der Alten Jakobstraße in winterlicher Jahreszeit lustige Maskenbälle gefeiert wurden, an denen selbst der Hof teilzunehmen sich nicht scheute. Die höchsten Herrschaften erschienen mitten unter den Bürgern Berlins, ohne zu fürchten, am nächsten Tage in den Zeitungen kritisch beleuchtet zu werden. Damals schrieb man freilich vor 1848.

Auch beim Feuer fehlte ich niemals. Eine plötzliche Feuersbrunst, besonders in nächtlicher Zeit, verschaffte der gesamten Jugend Berlins, von der ich mich keineswegs ausschloß, den Genuß eines schauerlichen Vergnügens. Die Nachtwächter tuteten in ihr Kuhhorn, sobald ein roter Schein am Himmel aufflammte, langsam öffneten sich die Hausthüren und Gevatter Schneider, Schuster und sonstige seßhafte Mitglieder der Zünfte erschienen im Kostüm von Feuerleuten. Ein sonderbarer dunkler Blechhelm mit einer aufwärts strebenden Krümmung am Hinterkopf bedeckte ihr Haupt und ein schlotternder Rock von festem grünschwarzem Drillich legte sich um ihre Glieder. Die einen zogen nach dem nächsten Spritzenhause, um die rollenden Löschapparate zum Auszuge vorzubereiten, die andern begaben sich nach den Droschkenställen, um deren Besitzer an ihre Pflicht zu gemahnen, d.h. die abgetrabten Gäule an die Spritze zu spannen; wieder andere besetzten die Brunnen »Plumpen« genannt, um die mit faulendem Wasser gefüllten »Tienen«, die auf einem Holzschlitten ruhten, von andern Droschkenpferden durch die Straßen bis zur Brandstätte schleifen zu lassen. Was nur gehen konnte, war auf den Beinen, und natürlich die Jugend nicht die letzte, die sich besonders bei Nacht an dem roten Scheine der sinkenden Pechfackeln erfreute und munter neben den Spritzen und Feuertienen einhertrabte.

Die eigentliche Löscharbeit war bei großen Bränden eine vergebliche Mühe, wenn auch die nächststehenden Zuschauer, die Maulaffen feilboten, von dem Spritzenvolke ohne Unterschied der Person gepreßt wurden, um die Pumpen in Bewegung zu setzen. Ich habe den entsetzlichen Brand des alten Mühlendammes, bei dem nahe an 30 Menschen den Feuertod erlitten, mit eigenen Augen gesehen und später den großen Brand des Opernhauses miterlebt, bei dem zum erstenmale eine Dampfspritze ihre nur schwachen Dienste leistete, denn es fehlte am besten, am Wasser, und brauche auch meinerseits nicht zu versichern, daß damals das Löschwesen mit den unzureichendsten Mitteln betrieben wurde.

Berlin mit seinen 150000 Einwohnern war trotz seines Rufes als Residenz und als Mittelpunkt eines ungemein regen geistigen Lebens eine Kleinstadt geblieben, die sich am allerwenigsten mit den Weltstädten Paris und London hätte messen können. Der alte Mauerring, von dem noch Reste in der Nähe des Charitee-Gebäudes bis auf den heutigen Tag übrig geblieben sind, beengte ihre Ausdehnung. Es war ein Ereignis, als die Droschke mit der Nummer 100 sich in den Straßen zum erstenmale sehen ließ.

Außerhalb des häßlichen backsteinernen Gürtels mit seinem abfallenden Abputz fing die freie Natur an, wenn auch mit einziger Ausnahme des Tiergartens in wenig reizvollem Zustande. Die staubigen und sandigen Wege, meist von Hagedorn eingefaßt, oder von Disteln und Brennesseln eingesäumt, führten nach den nächstgelegenen Dörfern in der Umgegend. Einspännige Kremser, die an einzelnen Thoren hielten und deren Führer jeden neu einsteigenden Fahrgast als den letzten vor der im Augenblick bevorstehenden Abfahrt begrüßten, vermittelten die Verbindung mit Charlottenburg und sonstigen ferner liegenden Vergnügungsorten, in welchen »die Weiße« und sogenanntes »Bayersches« in höchst einfachen Gärten kredenzt wurde. Die Gegend des Galgens blieb von den Ausflüglern verschont; nur an den Tagen einer Hinrichtung strömte die neugierige Menge bereits um Mitternacht nach der schauerlichen Stätte, um einen guten Platz für das bevorstehende Schauspiel zu gewinnen. Männer, Frauen und Kinder zogen mit Eßkörben beladen zum Rosenthaler Thore hinaus, und man vergaß alle Müdigkeit in Erwartung der kommenden Dinge. Es war ein Stück mittelalterlichen Lebens, das sich bei solchen Gelegenheiten in und außerhalb Berlins abspiegelte.

Für die öffentliche Ruhe und Ordnung sorgte der Gendarm und der Polizeikommissar, vor welchen beiden ich einen gewaltigen Respekt besaß. Der letztere vertrat die Stelle des heutigen Polizeilieutenants und war in seinem Viertel eine wohlbekannte Erscheinung, der man mit gebührender Höflichkeit und Achtung gegenübertrat. Der Gendarm waltete seines Amtes in den Straßen und richtete sein strenges Auge auf alles Ungesetzliche und Ungehörige. Auch das Rauchen von Pfeifen und Zigarren in der Öffentlichkeit war einem Verbot unterworfen. Ich erinnere mich noch des Aufsehens, welches die berüchtigte Lola Montez während ihres damaligen kurzen Aufenthaltes in Berlin erregte. Von einer englischen Dogge begleitet, promenierte die stolze Spanierin mit einer brennenden Zigarette im Munde und einer Reitgerte in der Hand Unter den Linden einher. Dem Gendarm, der sie zur Rede stellte, hieb sie einfach mit der Gerte über das bärtige Gesicht. Sie wurde verhaftet und sofort aus Berlin verwiesen. Ihre Thaten und ihr Leben haben ihr bekanntlich in der Folge einen bösen Leumund verschafft. Als ich als General-Kommissar der aegyptischen Regierung in Amerika weilte, kam die Nachricht von ihrem Tode zu meinen Ohren. Sie war in bitterstem Elend in einem Dorfe, das in der Nähe von Philadelphia liegt, aus dem Leben geschieden.

Ich könnte ein Buch vom alten Berlin schreiben, wie es damals war, so treu haben sich meine Erinnerungen an die damalige Stadt und ihre witzigen Einwohner, meine lieben Landsleute, erhalten, wenn nicht schon andere mir zuvorgekommen wären und mit gewandterer Feder, als es die meinige ist, diese Aufgabe gelöst hätten. Außerdem liegt es ja nicht in meiner Absicht, dem Leser von der guten alten Zeit zu erzählen, sondern mich selber in den biographischen Vordergrund zu stellen, obgleich ich die Schwierigkeit empfinde, auch dieser Aufgabe in dem Maße gerecht zu werden, um nicht bloß bei meinen Freunden, sondern auch bei den ferner Stehenden die vielleicht unverdiente Teilnahme für meinen Lebenslauf zu erwecken. Meine Schuljahre darf ich dabei nicht übergehen, denn sie liefern den Schlüssel zu manchen Erscheinungen in der Entwicklung meiner Gemütsart, für die ich sonst keine Erklärung zu finden wüßte.

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