4. Kampf um das Dasein
Leid und Freud in der Heimat.
Meine glückliche Heimkehr nach Berlin glich
selbstverständlich einem Feste für mein Haus, in das ich den
Fuß mit einem Gott sei's gedankt einsetzte. Mit den reichsten
Schätzen meiner Arbeiten im historischen Nilthale beladen, sah
ich voller Frohsinn in die nächste Zukunft, wenngleich es mir
vorläufig noch verschlossen blieb, in welcher Weise ich den
Lebensweg vor mir zu ebnen hatte. Von meinem großmütigen
Könige in der huldvollsten Weise empfangen, von A. von
Humboldt mit den ermutigendsten Lobsprüchen überschüttet, von
meinen aufrichtigen Freunden in der herzlichsten Weise
begrüßt, ließ ich die erste Zeit der Aufregung und Abspannung
thatenlos verstreichen, bevor ich mich an den Arbeitstisch
setzte, meine Abschriften und Zeichnungen ordnete und an meine
wissenschaftlichen Untersuchungen mit alter Liebe und
Freudigkeit heranging. An Stoff fehlte es mir wahrlich nicht,
nur kam es darauf an, ihn in der nutzbringendsten Weise zu
verwerten und keinen kostbaren Augenblick zu verlieren.
Gerade diejenigen, die sich mit der Entzifferung
unbekannter Schriften und Sprachen des Altertums beschäftigen,
werden es am besten beurteilen können, in welcher ausgedehnten
Weise ihre Zeit in Anspruch genommen wird. Tage, Wochen und
Monate, ja selbst Jahre vergehen bisweilen, ehe es gelingt,
einem einzigen dunklen Zeichen oder Worte bis zu den
grammatischen Formen hin auf die richtige Spur zu kommen und
seinen Lautwert und seine Bedeutung festzustellen. Die Züge in
das Reich des Unbekannten spannen die Nerven an und ermüden,
wenn auch jeder erfochtene neue Sieg den höchsten Lohn in sich
trägt: die eigene Genugthuung an der harten Arbeit. Die
gesammelten Blätter wachsen zu einem Baum an, den der Forscher
mit schier unbegreiflicher Liebe pflegt, um die künftigen
Geschlechter von seinen Früchten pflücken zu lassen. Mögen
auch manche darunter vom Wurme des Irrtums angefressen sein,
die guten Früchte bieten reichen Ersatz für die verdorbenen.
Meine demotischen Studien, für die ich in Ägypten einen
reichen Schatz zu künftigen Arbeiten gesammelt hatte, lehrten
mich, daß die Volkssprache und Volksschrift der alten Ägypter
nur die jüngsten Formen der älteren Hieroglyphik darstellten.
Um die Tochter zu verstehen, mußte die Urahne ihrem innersten
Wesen nach erkannt werden. Aber noch am Anfang der fünfziger
Jahre war es mit der alten Mutter ziemlich kläglich bestellt,
denn ihr Mund war kaum erst geöffnet worden und ihre Sprache
ließ nur abgerissene Spuren ihrer Gedanken erkennen. Man ahnte
mehr, als man wußte, und dem schwachen Wissen stellte sich
eine Welt von Zweifeln entgegen.
Schon in Ägypten war ich zu dem Entschlusse gelangt, der
hieroglyphischen Schriftsprache ihre Geheimnisse abzugewinnen
und ihren reichen Wortschatz in Gestalt eines alphabetisch
geordneten Lexikons zusammenzustellen. Es war ein Wagstück
meinerseits, diese Aufgabe lösen zu wollen, aber die bis dahin
gelieferten Vorarbeiten gaben mir den festen Grund, auf dem
ich den Bau aufzurichten gedachte. Ausgerüstet wie wenige mit
dem in Ägypten eingeheimsten Wortstoff, dem eine übergroße
Zahl geographischer Namen einen gleichfalls erst noch zu
bearbeitenden Zuwachs verschaffte, ging ich tollkühn ans Werk,
um eine Aufgabe zu bewältigen, für welche die ganze Kraft und
das denkbar längste Leben eines einzelnen Menschen kaum
auszureichen schien. Aber ich hatte einsehen gelernt, daß ohne
das volle Verständnis der altägyptischen Inschriften und Texte
die verschiedenen Gebiete meiner Wissenschaft, vor allem die
ägyptische Geschichte, in der Luft schwebten und daß leere
Königsnamen und chronologische Tabellen keinen Anspruch darauf
erheben konnten, den Inhalt der Überlieferungen auf Stein und
Papyrus zu ersetzen, mit einem Worte, ich war begierig zu
lesen, nicht nur zu erraten, was die Hieroglyphen in sich
bargen, und es ließ mich Tag und Nacht nicht ruhen, um meinem
Ziele näher zu treten.
Die Anfänge meiner Vorarbeiten fielen bereits in die ersten
Monate nach meiner Heimkehr aus dem Nilthale. In meiner
Begeisterung übersah ich die Sorge, die hinter mir auf dem
Stuhle saß. Ich stand nicht allein in der Welt, denn meine
fünfköpfige Familie verlangte nach der Notdurft und Nahrung
des Leibes. Meine bescheidene Stellung als Privatdozent an der
Universität unserer Residenzstadt verschaffte mir zwar die
Freude, eine für die damalige Zeit verhältnismäßig große
Anzahl von Zuhörern zu gewinnen, darunter Ausländer, die heute
einen Namen in der Wissenschaft tragen, allein die gezahlten
Honorare bildeten nur vereinzelte Tropfen in dem Wasserglase
meiner Ausgaben. Dankbar muß ich es anerkennen, daß
gelegentliche Remunerationen aus der Kasse des
Unterrichtsministeriums manches Loch zustopfen halfen, aber in
der Hauptsache war ich auf meine eigene Thätigkeit angewiesen,
um die notwendigsten Mittel zur Erhaltung der Familie zu
erwerben.
Da meine wissenschaftlichen Leistungen, die der Reihe nach
im Buchdruck erschienen, nicht dazu angethan waren, um einen
größeren Leserkreis zum Kauf anzulocken, so waren die daraus
gewonnenen Einnahmen selbstverständlich bescheidenster Natur.
Um das Fehlende zu ergänzen, fing ich an, trotz meiner
zeitraubenden ernsten Studien zur Aufhellung der ägyptischen
Finsternisse, eine ziemlich ausgedehnte litterarische
Thätigkeit in Buchform sowie in Zeitschriften und Zeitungen zu
entwickeln. Mein Leiborgan war die damalige Spenersche
Zeitung, Onkel Spener, wie der Berliner sie nannte, für die
selbst ein A. von Humboldt seine Feder in Bewegung setzte.
Nebenbei erteilte ich Privatunterricht und trat auf Zureden
meines ehemaligen Direktors August als Lehrer in die Prima von
Kölln ein. Diese nene Thätigkeit bereitete, offen gesagt, mir
die größte Freude und legte den Grund zu meiner späteren
Befähigung, im Morgenlande als Direktor einer neu gestifteten
Hochschule meines Amtes zu walten. In den Wintermonaten
erschien ich nicht selten an den Vortragsabenden in der
Singakademie als Redner und erntete, vielleicht in
unverdienter Weise, das Lob meiner nachsichtigen Zuhörer ein.
Das schöngeistige Berlin pflegte sich an den Sonnabenden in
dem langen Vortragsgebäude am Kastanienwäldchen ein
Stelldichein zu geben und selbst die Majestäten und die
prinzlichen Mitglieder unseres Königshauses verschmähten es
nicht, ihre Teilnahme durch ihr persönliches Erscheinen zu
bekunden und dem von gelehrten Rednern behandelten
wissenschaftlichen Gegenstande ihre vollste Aufmerksamkeit zu
schenken. Die Vortragsabende, die sich unter der Leitung des
Professors von Raumer eines außerordentlich zahlreichen
Besuches erfreuten, gingen erst im Laufe der Zeiten ein, als
die Tonkunst ihren ausschließlichen Sitz in der Singakademie
aufgeschlagen hatte und an die Stelle der einsamen Rednerbühne
ein wohlbesetztes Orchester getreten war.
Meine regelmäßige Thätigkeit erlitt manche Unterbrechung
durch die häufigen, wenn auch angenehmen Besuche von Freunden
und Gönnern, zu denen das Ausland, vor allem Paris, einen
bedeutenden Beitrag lieferte. Eine besondere Genugthuung
gewährte mir die plötzliche Ankunft meines Gastfreundes August
Mariette, der eine Reise nach Frankreich benutzt hatte, um
einen dreiwöchentlichen Abstecher nach Berlin zu unternehmen
und mir sein volles Herz auszuschütten. Nach der Beendigung
seiner in Ägypten vollzogenen Ausgrabungen, die ihm viel Ehre
und Ruhm, aber wenig Geld und Hoffnungen für die Zukunft
eingetragen hatten, fand er sich zuletzt dem Nichts gegenüber,
so daß er ein gleiches Schicksal mit mir teilte und wir beide
die erklärliche Veranlassung hatten, aus vollstem Herzen
miteinander Trübsal zu blasen. Zum Glück rettete ihn sein
guter Humor vor verzweifelten Schritten und er fing an, neue
Pläne in Erwägung zu ziehen, um seine Rückkehr nach Ägypten
und seinen Eintritt in den ägyptischen Staatsdienst zu
ermöglichen. Er hielt sich in seiner eigenen Heimat für
geächtet, nachdem seine Arbeit über den Kult des Apisstiers
von der Kirche auf den Index gesetzt worden war und ihm manche
stille Gegner in seiner französischen Heimat erworben hatte.
Dem König bot die Ankunft Mariettes in Berlin die
erwünschte Gelegenheit dar, von dem Entdecker des Serapeums
eine genauere Einsicht in die bloß gelegten unterirdischen
Bauten mit ihrem überreichen antiquarischen Inhalt zu
gewinnen. Mir selber waren durch sein Wohlwollen fünfzig
blanke Friedrichsdor zugekommen, um mir die Kosten der
gebotenen Gastfreundschaft zu erleichtern, mit dem
ausdrücklichen Befehl, ja nichts darüber gegen Mariette
verlauten zu lassen. In Charlottenburg wurden wir beide an
einem Februarabend zur Tafel gezogen und Mariette hatte die
Ehre, dem Könige auf Grund seiner vorgelegten Zeichnungen und
Pläne die eingehendsten Erläuterungen über seine Ausgrabungen
und Funde darzubieten. Mit der lebendigsten Teilnahme folgte
der König dem Berichte des französischen Altertumsforschers,
den er beim Abschiede durch die Verleihung des Roten Adlers 3.
Klasse auszeichnete, um seinem königlichen Danke einen
bleibenden Ausdruck zu verleihen. Auch meine Wenigkeit ging
bei dieser Gelegenheit nicht leer aus. Im Begriff
gemeinschaftlich mit meinem Freunde die Treppe des Palastes
niederzusteigen, um unsern Heimweg anzutreten, drückte mir der
damalige Geheime Kabinettsrat Illaire ein Päckchen in die Hand
mit den Worten: »Dies auf Befehl Seiner Majestät für Sie,
damit Sie nicht weinen.« Es enthielt den Roten Adlerorden 4.
Klasse.
Mariette war von den gelehrten Kenntnissen und der
Liebenswürdigkeit des hohen Herrn bezaubert und er konnte
nicht Worte genug finden, um mir seine volle Bewunderung
auszudrücken und mich zu versichern, daß er mich selber um
mein Schicksal fast beneide, das ein für allemal in der
nächsten Zukunft gesichert sei. Wie anders sei sein Empfang in
Frankreich gewesen, wo selbst ein Napoleon nicht die Macht
besitze, ihn gegen seine Gegner zu schützen und zu einer
ehrenvollen und gesicherten Stellung zu verhelfen. Mehr als
jemals sei er deshalb entschlossen, sein Vaterland zu
verlassen, um in Ägypten eine zweite Heimat zu suchen und in
der Person des nach der Ermordung Abbas I. Paschas zur
Regierung gelangten Sajid Pascha einen hochherzigen Beschützer
zu finden.
Die nächsten Jahre flossen mir unter meinen
wissenschaftlichen Arbeiten und Untersuchungen wie Monate
dahin, aber mir war es, als sei meine erträumte Zukunft ein
Kartenhaus, das jeden Augenblick vor dem leisesten Windstoße
umzustürzen drohte. Die Absicht meines so gnädigen Königs,
mich zum Mitdirektor des in seiner Aufstellung vollendeten
ägyptischen Museums zu ernennen, wurde durch einen unseligen
Irrtum vereitelt. In die ausgefertigte Kabinettsordre war
durch ein unerklärt gebliebenes, für mich verhängnisvolles
Versehen des damaligen Kabinettsrats Niebuhr der Name Lepsius
an Stelle des meinigen eingetragen worden und der König hatte
sie mit einer Zahl anderer Schriftstücke unterzeichnet, im
vollen Glauben, daß es sich um meine Person handele. Am
nächsten Tage war die Ernennung in allen Zeitungen zu lesen.
A. von Humboldt war außer sich vor Erregung, allein der
Schaden war nicht mehr gut zu machen und ich mußte dem
Schicksal danken, daß mir wenigstens die Rolle eines
Direktorialassistenten an dem ägyptischen Museum gesichert
blieb mit einer Besoldung, die für die damalige Zeit
ausreichte, um mich über Wasser zu halten.
Da traf, gegen Ende des Jahres 1857, eine Einladung
Mariettes aus Ägypten an mich ein mit der fröhlichen
Mitteilung, daß seine Stellung ein für allemal gefestigt sei,
Sajid Pascha habe ihn zum Generaldirektor eines Museums in
Bulak, einer Vorstadt Kairos, ernannt, ihm die Vollmacht über
die weitest ausgedehnten Ausgrabungen erteilt und er erwarte
meine schleunigste Ankunft, um gemeinschaftlich mit ihm eine
Reise auf dem Nildampfer des Museums nach Oberägypten zu
unternehmen. Er erwarte von meiner Freundschaft eine umgehende
Zusage und fordere mich auf, mein Bündel augenblicklich zu
schnüren und meinen Weg nach seiner Dienstwohnung an dem Ufer
des Niles zu nehmen.
A. von Humboldt hielt zum Nutzen meiner wissenschaftlichen
Ausbildung und mit Rücksicht auf neue bereits begonnene
Ausgrabungen die Aufforderung für so wichtig, daß er mich
drängte, unverzüglich die Abreise anzutreten, mit dem
Versprechen, mir einen der kräftigsten Empfehlungsbriefe an
den regierenden Vizekönig Ägyptens zu übergeben; »der werde
Wunder thun«, wie mein greiser Gönner lächelnd hinzufügte. Der
König ließ mich nach Sanssouci befehlen, um mir zu gestatten,
mich persönlich verabschieden zu können. Trotz seines
leidenden Zustandes hatte der König die Kraft, fast eine halbe
Stunde die lebendigste Unterhaltung zu führen, über meine
Reisepläne den näheren Bericht anzuhören, geschichtliche
Fragen über die Ramessidenzeit zu berühren und mir das genaue
Studium gewisser Denkmäler zu empfehlen. Tief gerührt empfing
ich die Abschiedswünsche des gütigen Königs, ohne es damals zu
ahnen, daß mir zum letztenmal das Glück beschieden war, in
seine milden und freundlichen Züge schauen zu dürfen.
Auf meinem Wege von Sanssouci aus nach dem Bahnhofe in
Potsdam, um meine Rückkehr nach Berlin anzutreten, wurde mir
eine ebenso plötzliche als unerwartete Überraschung zu teil.
Ein Adjutant des Königs, es war ein Rittmeister von Rauch,
sprengte mir zu Pferde nach und händigte mir »auf Befehl
Seiner Majestät« ein versiegeltes Etui ein, in dem sich der
Rote Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife befand. Wenngleich
ich mir einbildete als dreißigjähriger junger Mann kein
genügendes Anrecht auf eine so ungewöhnliche Auszeichnung zu
besitzen, die nur durch Stellung und Verdienste hervorragenden
Personen in einem höheren Lebensalter verliehen zu werden
pflegt, so rührte mich dennoch dieser erneuerte Beweis des
gnädigsten Wohlwollens des Königs bis in die tiefste Seele
hinein, denn er sagte mir mehr, als es Worte vermögen, mit
welch großer Teilnahme der König meine schwachen Leistungen
verfolgte und wie sehr ihm daran gelegen war, mir noch vor dem
Antritt meiner zweiten Reise nach Ägypten einen öffentlichen
Beweis seiner Teilnahme zu schenken. A. von Humboldt
versicherte mich wiederholt, wie sehr ihn die edelmütige
Absicht des Königs überrascht habe, von der er selber nicht
die geringste Ahnung besessen habe.