1. Meine Kindheit und meine Schuljahre
Alexander von Humboldt wird mein Beschützer.
Passalacqua begab sich zu dem Nestor der Wissenschaft, dem
großen Alexander von Humboldt, der sich mit Recht eines
Weltrufs erfreute und als Freund und Ratgeber Königs Friedrich
Wilhelm IV., seines großmütigen und edelherzigen Herrn, des
denkbar höchsten Ansehens nicht bloß in Berlin, sondern im
ganzen Lande und in der gesamten gebildeten Welt erfreute.
Wenn der ehrwürdige Greis, damals ein angehender Achtziger, im
schwarzen Leibrocke und weißer Binde durch die Straßen der
Stadt in langsamem Schritte wandelte, so blieb jung und alt,
hoch und niedrig stehen, um beim Nahen der würdigen Gestalt in
herzlichster Ehrfurcht den Hut zu lüften. Seine Person wie
sein Name war allen bekannt, und man schätzte sich glücklich,
ihn gesehen zu haben und nun gar erst von ihm angesprochen zu
sein.
Seine Wohnung lag in der Oranienburger Straße, ganz in der
Nähe der vortrefflichen Mätznerschen Töchterschule und
gegenüber einer Apotheke. Eine Gedenktafel an demselben
befindet sich heutzutage unterhalb des ersten Stockwerkes, das
er allein bewohnte und in welchem er seine letzten
arbeitsreichen Jahre bis zu seinem Tode verlebte. Sein
schmuckloses Arbeitszimmer, ein kleines, einfenstriges Zimmer,
lag nach dem Hofe hinaus, an dessen Hinterseite sich ein
Gärtchen befand, dessen Mauer an die Johannisstraße stieß. Ein
später Spaziergänger konnte von hier aus noch um drei Uhr
nachts das erleuchtete Fenster erkennen, hinter welchem der
unsterbliche Gelehrte vor einem Tische saß, um seinen Kosmos
niederzuschreiben. Erst gegen vier Uhr pflegte er sein Bett in
einem winzig kleinen Alkoven aufzusuchen, in welchem er auch
seinen Geist aufgab.
Passalacqua war dem großen Alexander von Humboldt wohl
bekannt, denn er hatte mit ihm die Unterhandlungen in Paris
wegen der Erwerbung seines ägyptischen Museums für Berlin
geführt und war auch nach seiner Ansiedelung in Berlin mit dem
Nestor der Wissenschaft in steter Berührung geblieben.
In aller Ruhe setzte er ihm den Gegenstand seiner bitteren
Klage auseinander, zugleich die offizielle Erwiderung auf sein
ehrfurchtsvolles Bittgesuch an den König im Original
vorlegend.
A. von Humboldt hörte ihn aufmerksam an, bewegte unwillig
das Haupt, ein schmerzlicher Zug spielte um seine Lippen, und
nach einigem Nachdenken erwiderte er dem erregten Manne, der
nach Gerechtigkeit schrie: »Ich beklage auch meinerseits das
Geschehene und zweifle durchaus nicht an der Richtigkeit Ihrer
Behauptung in Bezug auf das Talent Ihres Schützlings. Aber die
Vorsicht gebietet, daß wir ein unparteiisches Urteil auch von
anderer, gelehrter Seite vernehmen. Das kann nur möglich sein,
wenn der junge Mann seine demotische Grammatik und zwar auf
meine Kosten veröffentlicht. Die nicht fehlende Kritik über
den Wert oder Unwert seiner Entdeckungen wird für meine
weiteren Entschließungen maßgebend sein.«
Schon am nächsten Tage erhielt ich die Einladung, mich
zwischen 12 und 1 Uhr mittags, es war die übliche
Empfangszeit, in der Behausung des großen Mannes einzufinden.
Mein Herz klopfte fast hörbar, als ich den Klingelzug neben
der großen Glasthür im ersten Stocke anzog und bald darauf
einem kräftigen Fünfziger von herkulischer Gestalt
gegenüberstand, der mir den Eingang öffnete und nach meinem
Begehren fragte. Es war »der alte Seiffert«, der treue
Kammerdiener und ehemalige Begleiter A. v. Humboldts auf
dessen letzten Reisen nach dem Ural und Sibirien. Ich nannte
ihm meinen Namen und der unbekannte schüchterne Primaner wurde
sofort zu dem großen Manne geführt.
Der ehrwürdige Greis saß wie immer im schwarzen Leibrock
und in weißer Binde vor seinem Tische am Fenster, umgeben von
Büchern und von offenen Pappkasten, die seine wohlgeordneten
Kollektaneen zum »Kosmos« enthielten. Seine Feder schrieb in
schräger Zeilenrichtung auf das Papier. Bei meinem Eintritt
erhob er sich, bat mich, auf dem einfachen, mit grünem
Wollenstoff überzogenen Sofa meinen Platz einzunehmen, und
setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl neben dem von
Schriften und Büchern überladenen Sofatisch. Ich war befangen
wie einer, dem es an Kopf und Kragen gehen soll, stammelte
Worte der Entschuldigung, aber bald schmolz das Eis meiner
innersten Furcht und Angst vor den milden, freundlich
lächelnden Zügen des Greises, die jedem unvergeßlich blieben,
dem auch nur einmal das Glück beschieden war, sich in seiner
Nähe zu befinden.
Was er mir sagte, waren Worte des Erstaunens über meine
frühe wissenschaftliche Thätigkeit, Fragen nach meinen Eltern
und meinem Direktor, »der ihm als gründlicher Physiker auf das
beste bekannt sei«, und endlich der Vorschlag, meine Arbeiten
auf seine Kosten drucken zu lassen. Ich kann mir noch heute
das eigene Zeugnis ausstellen, daß ich die an mich gerichteten
Fragen wissenschaftlicher Art, insoweit sie Ägyptens
Schriftsprachen und Geschichte berührten, auf das
verständigste und augenscheinlich zur Zufriedenheit des
Hörenden beantwortete. Er drückte mir beim Abschied die Hand
und forderte mich auf, so oft es meine Zeit erlaubte, ihn zu
besuchen und seinen guten Ratschlägen zu folgen.
Glücklich wie ein König verließ ich die gesegnete Stätte in
begeisterter Stimmung, um meinen Eltern von meinem Empfange
und meinen Eindrücken im Hause des Unvergleichlichen zu
berichten. Mein gesunkener Mut fühlte sich gehoben, meine
Kraft gestählt, mein ganzes Wesen war wie durch Zauber
umgewandelt.
Bereits am nächsten Tage ging ich ans Werk, um meine
niedergeschriebene Grammatik der demotischen Schriftsprache
dem Drucke zu übergeben. An einen Typensatz war natürlich
nicht zu denken, da die einzelnen Züge dieser Schrift aus
einer ungemein reichen Zahl, außerdem aber aus vielen
miteinander verbundenen Charakteren oder Ligaturen bestehen,
deren Schnitt und Guß ebenso zeitraubend als kostspielig
gewesen sein würde. Ich zog es deshalb vor, das ganze Buch, in
lateinischer Sprache abgefaßt, mit Hilfe des Umdrucks zu
veröffentlichen, und schrieb mit einer besonders präparierten,
aber sehr zähen Fetttinte meinen Text auf Papier nieder, das
mit Eiweiß überzogen war und dem Schreibenden neue
Schwierigkeiten bereitete.
Meine Handschrift wurde schließlich auf Zinkplatten
übertragen und von diesen der Abzug jedes einzelnen Bogens
genommen. Die Arbeit ging munter von statten und nach
vierzehntägigem anstrengendem Schreiben im steten Kampfe mit
den angedeuteten mechanischen Hindernissen sah ich mein erstes
Opus vollendet. Von einer eigenhändig niedergeschriebenen
Vorrede meines hochverehrten Direktors August mit
schmeichelhaften Worten für den jungen Verfasser in die Welt
eingeführt, sah mein Buch im Januar des Jahres 1848 das Licht
der litterarischen Öffentlichkeits1. Unmittelbar vor dem
Abiturienten-Examen stehend, hatte ich es fertig gebracht und
meinerseits das Verlangen Alexanders v. Humboldt in kürzester
Frist erfüllt. Mit Spannung sah ich den gelehrten Urteilen
über mein Buch in Deutschland und im Auslande entgegen, doch
ohne die geringste Unruhe über sein Schicksal zu empfinden,
denn ich hatte das tröstende Gefühl, meiner Sache sicher zu
sein.
In England war es zuletzt Dr. Hinks gewesen, der
gelegentlich der demotischen Schrift seine Aufmerksamkeit
geschenkt hatte, in Frankreich hatte sie dagegen der Pariser
Akademiker und Artillerie-Oberst de Saulcy gerade in den
letzten Jahren zum Gegenstande seiner eifrigsten Forschungen
gemacht, und kurze Zeit vor dem Erscheinen meines eigenen
Werkchens eine demotische Inschrift nach seiner Weise
entziffert und seine Arbeit darüber in die Öffentlichkeit
geschickt. Nachdem ich durch Humboldts Güte in den Besitz
seines Werkes gekommen war, konnte ich mich nach kurzer Zeit
davon überzeugen, daß seine Entzifferungen auf vollständig
irrtümlicher Grundlage beruhten. Ich sprach meine gegenteilige
Meinung an einer Stelle meiner Grammatik aus, doch nicht ohne
meinem berühmten Beschützer die Fassung meines Urteiles vorher
zu unterbreiten. »Um Himmels willen!« rief er lächelnd aus,
»Begehen Sie keine Thorheit, als Primaner einem französischen
Akademiker die, wenn auch verdiente, Wahrheit zu sagen.
Benutzen Sie im Gegenteil die günstige Gelegenheit, ihm trotz
Ihrer abweichenden Meinung einige schmeichelhafte Worte zu
widmen, etwa in dem Sinne, daß, wenn Sie sich auch nicht mit
seiner Leistung einverstanden zu erklären vermöchten, Sie
dennoch zu Ihren eigenen Ergebnissen nur durch die Anwendung
seiner méthode raisonnée gelangt wären. Sie werden dadurch
nichts verlieren und in de Saulcy einen warmen Freund und
Beschützer gewinnen, der Ihnen in Paris sehr nützlich sein
kann.« Ich folgte Humboldts weisem Rate und ersetzte die
bezügliche Stelle durch eine geschickte Wendung, die mit den
Worten schloß, daß die Entzifferung der demotischen Schrift
ihrer auffallenden Ähnlichkeit der verschiedensten Zeichen
halber so schwer sei, daß unter allen Gelehrten, die sich
bisher mit demotischen Studien befaßt hätten, die Palme
zweifellos dem scharfsinnigen de Saulcy gebühre.
Wie gut ich daran gethan hatte, diesen Ausweg zu nehmen,
das bewies mir der erste Empfang schon, den mir wenige Monate
später der gelehrte Artillerie-Oberst nach meiner Ankunft in
Paris bereitete. Mit einer schriftlichen Empfehlung Humboldts
in der Hand stellte ich mich damals dem französischen
Demotiker vor. Er saß in militärischer Uniform auf einem
Stuhle vor dem geschnitzten Kamin, umgeben von mehreren jungen
französischen Offizieren, die mit ihm an den Feldzügen in
Algier teilgenommen hatten. Ich stand aufrecht vor ihm. Kaum
hatte er die ersten Worte des Briefes gelesen, als er
plötzlich aufsprang, mich stürmisch küßte und umarmte, meine
Rechte ergriff und mich seinen Offizieren mit den Worten
vorstellte: »Regardez bien ce jeune homme là! On ne m'a jamais
battu sur les champs de bataille en Afrique, mais ce gamin m'a
joliment vaincu dans ma campagne démotique.« Seinen eifrigen
Empfehlungen verdankte ich in der Folge die wärmste Aufnahme
in den Kreisen der Pariser Gelehrtenwelt, und seine
freundschaftlichen Gesinnungen gegen mich dauerten lebelang.
Das Erscheinen meines bescheidenen Buches wurde vor allem
im Auslande mit aufrichtiger Freude begrüßt und zahlreiche
Zuschriften berühmter Gelehrten gelangten an mich, um mir zu
meinen Erfolgen Glück zu wünschen. Den größten Triumph
bereitete mir indessen eine kritische Besprechung meines
Buches aus der Feder des französischen Akademikers und
Staatsrates Vicomte Emmanuel de Rougé, der wenige Jahre vorher
dem Studium des Altägyptischen und der Denkmälerwelt seine
ganze Aufmerksamkeit zugewendet hatte. Schon seine ersten
Arbeiten auf dem Gebiete der hieroglyphischen und hieratischen
Schriftentzifferung bewiesen den außerordentlichen Scharfsinn
des späteren Meisters, der dazu berufen war, eine neue
fruchtbringende Epoche der Ägyptologie in Frankreich zu
begründen. Denn nach dem Tode Champollions des Jüngern stand
diese Wissenschaft verlassen und verwaist da.
Freilich nahm Ch. Lenormant den frei gewordenen Lehrstuhl
des Entdeckers der Hieroglyphen-Entzifferung ein, doch ohne
die Erforschung des noch Unbekannten auch nur um einen Schritt
weiter zu bringen.
Vicomte E. de Rougés Abhandlung, die meine eben erschienene
demotische Grammatik beleuchtete, war in der Revue archéologie
zum Abdruck gelangt und ihr Inhalt von Humboldt mit dem
größten Vergnügen gelesen worden. Noch an demselben Tage legte
er sie seinem königlichen Herrn und Freunde vor, und man kann
sich die Wirkung des Eindrucks leicht vorstellen. Von der
Gnade des Königs erhielt ich die rührendsten thatsächlichen
Beweise, denn aus seiner Schatulle sollten mir die Kosten
während meiner dreijährigen Studien auf der Berliner
Universität ausgezahlt werden, um mich der schweren Sorge für
mein Fortkommen zu entheben und dadurch meine demotischen
Forschungen auf alle Weise zu erleichtern.
Infolge meiner soldatisch strengen Erziehung im Hause
haftete meinem ganzen Wesen eine ängstliche Schüchternheit.
an, die ich mein Leben hindurch im Umgang mit höher gestellten
Personen nur schwer zu unterdrücken vermochte. Ich merkte es
nicht erst in meinen späteren Jahren, daß ein Unterschied in
der Welt zwischen den Großen und den Kleinen besteht und daß
die Abstammung von vornehmen und durch ihre Stellung oder
ihren Reichtum hervorragenden Eltern die beste Empfehlung für
das Schicksal der Söhne und Töchter des Hauses abgiebt. Die
Erblichkeit in der Kaste hat noch heute ihre vollste
Giltigkeit, und ich kann aus eigener Lebenserfahrung Humboldts
gelegentliche Äußerung nur bestätigen, daß der eiserne Ring
des Mandarinentums von einem homo novus nicht ungestraft
durchbrochen werden kann.
Nichtsdestoweniger hatte ich in der großen Öffentlichkeit
eine Menge von Freunden gewonnen, die redlich gerade für den
homo novus eintraten und ihm die Thüre ihres Hauses und
Herzens aufthaten. Der damalige Bürgermeister von Berlin Dr.
Naunyn, der Polizeipräsident von Minutoli, mit dem ich später
nach Persien zog, der würdige und gelehrte Dr. Parthey,
Besitzer der Nicolaischen Buchhandlung in der Brüderstraße und
Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, General
von Alvensleben, unter dessen Kommando mein Vater die
Leibgendarmerie führte, und andere bekannte Persönlichkeiten
boten dem jungen Primaner ihren Schutz und Beistand an, und
ich ward durch Einladungen geehrt, als ob ich ein Etwas für
Berlin und Umgegend geworden wäre. Ich suchte so viel wie
möglich mein schüchternes Wesen zu überwinden, und ging, von
der Mutter wohl ausstaffiert, in die glänzendsten
Gesellschaften.
Der Monat März des Jahres 1848 war hereingebrochen und das
Abiturienten-Examen nahm seinen Anfang. Die schriftlichen
Arbeiten waren unter üblicher Klausur erledigt und die Woche
für die mündliche Prüfung hatte ihren Anfang genommen. Leider
war die öffentliche Ruhe in den angrenzenden Straßen nicht
dazu angethan, die Aufmerksamkeit und die weihevolle Stimmung
der jungen Abiturienten in gebührendem Maße zu fesseln, denn
die Plätze und Gassen in der Umgebung des königlichen
Schlosses bis zu den Linden hin waren mit zahlreichen
Menschengruppen angefüllt, die sich auf das lebhafteste
miteinander unterhielten und ihrem Mißmute mit lauten Worten
Ausdruck verliehen. Berlin war politisch aufgeregt, seitdem
die letzten Nachrichten aus Paris den Sturz des Königs der
Franzosen Louis Philipp infolge eines revolutionären
Aufstandes und die Umwandlung der Monarchie in eine Republik
gemeldet hatten. Die guten Berliner, welche die Ruhe als die
erste Bürgerpflicht zu preisen pflegten, waren von der
stürmischen Bewegung, die wie ein böses Gespenst durch ganz
Europa zog, in unheimlichem Maße mit fortgerissen, und sie
fanden in der damaligen teueren Zeit und der allgemeinen Not
die nächste Veranlassung, ihrem Mißbehagen einen nichts
weniger als beruhigenden Ausdruck zu geben.
Kavalleriepatrouillen ritten durch die Straßen, verjagten
durch ihren Anblick allein die sich zusammendrängenden Bürger
und Bassermannschen Gestalten, die nach allen Seiten unter
lautem Gejohle und Gepfeife auseinanderstoben. Bei meinen
täglichen Wanderungen nach dem Gymnasium in der Prüfungswoche
war ich genötigt, den Weg durch die Breite oder Brüderstraße
einzuschlagen, und war bei meinen Gängen unfreiwilliger Zeuge
der aufregendsten Scenen. Durch ganz Berlin herrschte eine
gedrückte Stimmung und jeder Unbeteiligte an der öffentlichen
Bewegung ahnte im voraus, daß sich etwas Außergewöhnliches
ereignen würde.
Fußnoten
1 Es erschien unter dem Titel Scriptura Aegyptiorum
demotica ex papyris et inscriptionibus explanata scripsit
Henricus Brugsch, discipulus primae classis Gymnasii realis,
quod Berolini floret in der Amelangschen Buchhandlung (damals
in der Brüderstraße gelegen) in dem oben angeführten Jahre.