VII. Zum Schluss
1. Ibn Chaldun
1. Die Philosophie des Ibn Roschd und seine Erklärung des
Aristoteles hat auf die muslimische Welt äußerst wenig
gewirkt. Viele seiner Schriften sind im Original verloren
gegangen, wir haben sie in hebräischen und lateinischen
Übersetzungen. Schüler und Nachfolger hat er nicht gefunden.
In abgelegenen Winkeln fand sich wohl mancher Freigeist oder
Mystiker, in dessen Kopf es wunderlich genug aussah, um sich
ernstlich mit philosophischen Fragen theoretischer Art
abzumühen, aber auf die allgemeine Bildung und die Gestaltung
der Verhältnisse zu wirken, wurde der Philosophie nicht
verstattet. Vor den siegreichen Waffen der Christen zog die
materielle und damit auch die geistige Kultur der Muslime sich
immer weiter zurück. Spanien ward Afrika, wo der Berber
herrschte. Die Zeit war ernst, es handelte sich um die
Existenz des Islam in diesen Ländern. Zum Kampfe gegen den
Feind, aber auch gegen einander, rüsteten sich die Männer, und
zu mystischen Übungen schlossen sich überall die frommen
Brüder zusammen. In den sufischen Orden dieser Leute retteten
sich wenigstens noch einige philosophische Formeln. Als gegen
die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Kaiser Friedrich II.
den muslimischen Gelehrten von Ceuta eine Anzahl
philosophischer Fragen vorlegte, beauftragte der Almohade
Abdalwahid den Ibn Sabin, Stifter eines mystischen Ordens,
damit, sie zu beantworten. Er that es. In schulmeisterlichem
Tone leiert er die Ansichten alter und neuer Philosophen ab.
Das [178]sufische Geheimnis, Gott sei die Realität aller
Dinge, lässt er durchblicken. Das einzige aber, was wir aus
seinen Antworten lernen können, ist, dass Ibn Sabin Bücher
gelesen, von denen, wie er glaubt, Kaiser Friedrich keine
blasse Ahnung hatte.
2. In kleinen Staatengebilden, auf- und abwogend, trieb die
muslimische Kultur des Westens dahin. Bevor sie jedoch ganz
verschwand, fand sich der Mann, der das Gesetz ihrer Bildung
aufzufinden versuchte, und damit eine neue philosophische
Disziplin, die Philosophie der Gesellschaft oder der
Geschichte, zu begründen glaubte. Dieser merkwürdige Mensch
ist Ibn Chaldun, im Jahre 1332 aus sevillanischer Familie zu
Tunis geboren. Dort erhielt er auch seine Erziehung und wurde
dann, teilweise von einem im Orient ausgebildeten Lehrer,
philosophisch geschult. Nach dem Studium aller bekannten
Wissenschaften war er bald im Staatsdienste, bald auf Reisen,
aber überall ein guter Beobachter. Verschiedenen Fürsten
diente er als Sekretär, auch war er Gesandter an mehreren
Höfen in Spanien und Afrika. So war er am christlichen Hofe
Peters des Grausamen in Sevilla. Auch ist er bei Tamerlan in
Damaskus gewesen. Eine reiche Welterfahrung hatte er sich also
zu eigen gemacht, als er im Jahre 1406 zu Kairo starb.
Als Charakter ist er vielleicht nicht hoch zu stellen. Man
wird aber dem Manne, der mehr als andere seiner Zeit für die
Wissenschaft gelebt, etwas Eitelkeit, Dilettantismus und
dergleichen gerne verzeihen.
3. Die Schulphilosophie, wie Ibn Chaldun sie kennen lernte,
befriedigte ihn nicht. In ihren fertigen Rahmen passte sein
Weltbild nicht hinein. Wenn er etwas mehr zum Theoretisieren
aufgelegt gewesen wäre, hätte er wohl einen Nominalismus
ausgebildet. Die Philosophen behaupten, alles zu wissen. Ihm
aber erscheint das Universum zu groß, als dass es von unserem
Verstande begriffen werden könne. Es gibt der Wesen und der
Dinge [179]mehr, unendlich viel mehr, als der Mensch wissen
kann. “Gott schafft, was ihr nicht wisset”. Die logischen
Deduktionen wollen oft nicht stimmen zu der empirischen Natur
der Einzeldinge, die nur durch Beobachtung erkannt wird. Es
ist Einbildung, durch bloße Anwendung logischer Regeln zur
Wahrheit gelangen zu können. Nachdenken über das
erfahrungsmäßig Gegebene ist demnach die Aufgabe des
wissenschaftlichen Mannes. Und nicht darf er sich mit seiner
Einzelerfahrung begnügen, sondern mit kritischer Sorgfalt hat
er die Summe der gesamten überlieferten Erfahrung der
Menschheit zu ziehen.
Von Natur ist die Seele ohne Wissen. Aber von Natur hat sie
auch das Vermögen, nachzudenken, die gegebene Erfahrung zu
bearbeiten. Beim Nachdenken springt, wie durch Inspiration,
oft der richtige Mittelbegriff hervor, mittelst dessen die
gewonnene Einsicht dann nach den Regeln formaler Logik
zurechtgelegt werden mag. Die Logik bringt keine Erkenntnis
hervor, sondern beschreibt nur den Weg unseres Nachdenkens,
zeigt, wie wir zum Wissen kommen, und hat insofern auch einen
Wert, dass sie uns vor Irrtümern hüten und den Geist schärfen
und zu Genauigkeit im Denken anhalten kann. Sie ist folglich
eine Hilfswissenschaft, die von einigen Befähigten, dazu
Berufenen, auch ihrer selbst wegen gepflegt werden soll,
jedoch nicht die grundlegende Bedeutung besitzt, die ihr von
den Philosophen beigelegt wird. Den Weg des Nachdenkens, den
sie beschreibt, geht das wissenschaftliche Talent in irgend
einer Einzelwissenschaft auch zur Not ohne sie.
Ibn Chaldun ist ein nüchterner Denker. Alchemie und
Astrologie bekämpft er mit vernünftigen Gründen. Dem
mystischen Rationalismus der Philosophen hält er öfter die
einfachen Lehren seiner Religion entgegen, sei es mit
persönlicher Überzeugung oder nur aus politischer Rücksicht.
Aber auf seine wissenschaftlichen Ansichten übt die Religion
keinen größeren Einfluss als der neuplatonische
[180]Aristotelismus. Platons Staat, die
pythagoreisch-platonische Philosophie, aber ohne ihre
wundersüchtigen Auswüchse, und die Geschichtswerke seiner
orientalischen Vorgänger, namentlich des Masudi, haben auf die
Ausbildung seiner Gedanken am meisten gewirkt.
4. Mit dem Anspruch, eine neue philosophische Disziplin zu
begründen, von der Aristoteles keine Ahnung hatte, tritt Ibn
Chaldun auf. Philosophie ist die Wissenschaft dessen, was ist,
aus seinen Ursachen oder Gründen entwickelt. Aber dem
entspricht nicht, was die Philosophen über die hohe
Geisterwelt und Gottes Wesen vorbringen: Unbeweisbares reden
sie darüber. Viel besser kennen wir unsere Menschenwelt, und
davon lässt sich durch Beobachtung und innere Seelenerfahrung
etwas Sicheres aussagen. Hier lassen sich die Thatsachen
nachweisen und ihre Ursachen herausfinden. Insofern nun
letzteres auch in der Geschichte gelingt, d. h. sofern die
geschichtlichen Ereignisse auf ihre Ursachen zurückgeführt und
historische Gesetze aufgefunden werden können, ist die
Geschichte wirklich Wissenschaft und ein Teil der Philosophie
zu nennen. So tritt der Begriff der Geschichte als
Wissenschaft rein heraus. Mit Neugierde, Eitelkeit, gemeinem
Nutzen, erbaulicher Wirkung u. s. w. hat sie nichts zu
schaffen. Sie soll, wenn auch im Dienste höherer Lebenszwecke,
nichts anderes als Thatsachen feststellen und deren kausale
Verknüpfung auszumitteln suchen. Kritisch, ohne Vorurteil. Als
oberstes methodologisches Prinzip gilt dabei, dass die Ursache
der Wirkung entspricht, d. h. dass gleiche Erscheinungen auch
dieselben Bedingungen voraussetzen oder dass unter denselben
Kulturverhältnissen auch die nämlichen Vorgänge sich ereignen
werden. Da nun mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die
Natur der Menschen und der Gesellschaft im Laufe der Zeit sich
nicht oder nicht bedeutend ändert, so ist ferner ein
lebensvolles Verständnis der Gegenwart das beste Mittel zur
Erforschung der Vergangenheit, indem das [181]nächste,
vollständig Bekannte uns Rückschlüsse gestattet auf die
weniger gut bekannten Ereignisse früherer Zeit, ja sogar einen
Ausblick auf die Zukunft verheißt. In jedem Falle ist also die
Überlieferung an der Gegenwart zu prüfen, und wenn sie uns
Dinge erzählt, die jetzt unmöglich sind, so ist schon deshalb
ihre Wahrheit zu bezweifeln. Vergangenheit und Gegenwart sind
einander wie zwei Tropfen Wasser gleich.
Das könnte, absolut gefasst, auch Ibn Roschd gesagt haben.
Nach Ibn Chaldun gilt das aber nur ganz allgemein als
heuristisches Prinzip. Im einzelnen erleidet es manche
Einschränkung, ist jedenfalls aus den Thatsachen selbst zu
begründen.
5. Was ist nun der Gegenstand der Geschichte als
philosophischer Disziplin? Es ist, antwortet Ibn Chaldun, das
soziale Leben, die gesamte materielle und geistige Kultur der
Gesellschaft. Die Geschichte hat zu zeigen, wie die Menschen
arbeiten und sich ernähren, warum sie sich streiten und unter
einzelnen Führern zu größeren Verbänden zusammenschließen, wie
sie endlich im sesshaften Leben Muße finden zur Pflege höherer
Künste und Wissenschaften, wie also aus rohen Anfängen nach
und nach eine feinere Kultur aufblüht, und wie diese dann
wieder hinstirbt.
Die sich ablösenden Gesellschaftsformen sind, nach Ibn
Chaldun, Nomadentum, Dynastie und Stadtstaat. Die erste Frage
ist die Nahrungsfrage. Nach dem Stande ihrer Wirtschaft
(Nomaden, sesshafte Viehzüchter, Ackerbauer) unterscheiden
sich die Menschen und die Völker. Bedürfnis führt zu Raub und
Krieg und zur Unterwerfung unter den führenden Herrscher. So
entwickelt sich eine Dynastie und diese gründet sich eine
Stadt, wo die Arbeitsteilung oder die gegenseitige
Hilfeleistung Wohlstand hervorbringt. Aber dieser Wohlstand
führt zu unnatürlichem Müßiggange und Üppigkeit. Arbeit hat an
erster Stelle den Wohlstand erzeugt, aber jetzt, auf der
höchsten Kulturstufe, [182]lässt man andere für sich arbeiten.
Oft ohne Gegenleistung, denn Ansehen, oder auch Servilität
nach oben, Erpressung nach unten, verschaffen Wohlstand. Man
wird aber dabei von anderen abhängig. Die Bedürfnisse werden
immer größer, die Steuern immer drückender. Die reichen
Verschwender und Steuerzahler werden arm und ihr unnatürliches
Leben macht sie krank und elend.1 Die alten Kriegersitten
haben sich verfeinert, sodass man sich nicht mehr verteidigen
kann. Das Band des Gemeinsinnes oder der Religion, womit
früher die Not und der Wille des Herrschers die einzelnen
zusammenknüpfte, erschlafft, denn die Städter sind nicht
fromm. So ist alles in innerer Auflösung begriffen. Und da
erscheint ein neuer, kräftiger Nomadenstamm aus der Wüste,
oder ein weniger überbildetes Volk mit einem festeren
Gemeinsinne und fällt über die verweichlichte Stadt her. Dann
bildet sich ein neuer Staat, der sich die materiellen und
geistigen Güter der alten Kultur aneignet, und dieselbe
Geschichte wiederholt sich. Es ergeht den Staaten und den
größeren Verbänden wie einzelnen Familien: in drei bis sechs
Generationen vollendet sich ihre Geschichte. Die erste
Generation gründet, die zweite erhält, vielleicht auch die
dritte u. s. w., die letzte zerstört. Das ist der Kreislauf
aller Civilisation.
6. Nach August Müller stimmt die Theorie Ibn Chalduns zu
der Geschichte Spaniens, Westafrikas und Siziliens vom 11. bis
15. Jahrhundert, deren Beobachtung sie auch entnommen ist.
Freilich ist sein eigenes Geschichtswerk eine Kompilation. Im
einzelnen fehlt er oft, wenn er mit seiner Theorie die
Überlieferung meistert. Aber in seiner philosophischen
Einleitung findet sich eine Fülle feiner psychologischer und
politischer Bemerkungen und als ganzes ist sie eine großartige
Leistung. Das [183]Altertum hat sich mit dem Problem der
Geschichte nicht eingehend befasst. Große Kunstwerke der
Geschichtschreibung hat es uns hinterlassen, aber keine
philosophische Begründung der Geschichte als Wissenschaft.
Dass die Menschheit es, obgleich von Ewigkeit her bestehend,
nicht längst zu viel höherer Kultur gebracht hatte, wurde aus
elementaren Ereignissen, Erdbeben, Wasserfluten u. s. w.
erklärt. Dagegen fasste die christliche Philosophie die
Geschichte mit ihren Wandlungen als die Verwirklichung oder
Vorbereitung des Gottesstaates auf Erden. Ibn Chaldun hat nun
zuerst ganz bewusst und in ausführlich begründeter Darstellung
den Versuch gemacht, die Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft aus den nächsten Ursachen abzuleiten. Die
Verhältnisse der Rasse, des Klimas, der Güterproduktion u. s.
w. werden erörtert und in ihrer Wirkung auf die
sinnlich-geistige Konstitution des Menschen und der
Gesellschaft dargestellt. Im Kreislaufe der Civilisationen
findet er eine innere Gesetzmäßigkeit. Überall forscht er den
natürlichen Ursachen nach, bis zur möglichsten
Vollständigkeit. Dass die Kette von Ursachen und Folgen in
einer letzten Ursache zum Abschlusse komme, behauptet er auch
zu glauben. Die Reihe kann nicht ins Unendliche gehen, und
darum schließen wir auf einen Gott. Dieser Schluss aber, so
heißt es bei ihm, bedeutet eigentlich dies, dass wir nicht im
Stande sind, die Ursachen aller Dinge und die Art ihres
Wirkens zu erkennen, es ist im Grunde ein Geständnis unserer
Unwissenheit. Das bewusste Nichtwissen ist auch eine Art
Wissen. Aber soweit es möglich ist, soll man das Wissen
verfolgen. Indem Ibn Chaldun seine neue Wissenschaft anbahnt,
will er nur die Hauptprobleme angedeutet, nur im allgemeinen
Methode und Gegenstand dieser Wissenschaft angegeben haben.
Aber er hofft, dass andere nach ihm kommen werden, mit
gesundem Verstande und sicherem Wissen seine Untersuchungen
weiterzuführen und neue Probleme aufzustellen. [184]
Die Hoffnung Ibn Chalduns ist in Erfüllung gegangen, aber
nicht im Islam. Wie er ohne Vorgänger war, blieb er ohne
Nachfolger. Doch hat sein Werk im Orient nachhaltig gewirkt.
Viele muslimische Staatsmänner, die seit dem 15. Jahrhundert
so manchen europäischen Fürsten und Diplomaten zur
Verzweiflung gebracht haben, sind bei unserem Philosophen in
die Schule gegangen.