VI. Die Philosophie im Westen
2. Ibn Baddscha
1. Gegen Ende des elften Jahrhunderts, als Abu Bekr
Mohammed ibn Jachja ibn al-Saig ibn Baddscha in Saragossa
geboren wurde, war das schöne Andalusien nahe daran, in seiner
Kleinstaaterei unterzugehen. Von Norden her wurde es von den
weniger gebildeten, aber kräftigen und tapferen
Christenrittern bedroht. Da griff aber rettend die berberische
Dynastie der Almoraviden ein, die nicht nur fester im Glauben,
sondern auch klüger in der Politik war als die üppigen
Herrschergeschlechter Spaniens. Jetzt schien die Zeit feiner
Bildung und freien Forschens für immer dahin. Nur
Traditionarier der strengsten Observanz durften öffentlich
auftreten. Und die Philosophen, wenn sie sich nicht verborgen
hielten, wurden verfolgt oder getötet.
2. Aber barbarische Herren haben ihre Grillen, indem sie
die Bildung der von ihnen Unterworfenen, wenigstens äußerlich,
sich anzueignen lieben. Also nahm sich Abu Bekr ibn Ibrahim,
Schwager des Almoravidenfürsten Ali, der einige Zeit
Gouverneur Saragossas war, zum großen Ärgernis seiner Faqihs
und Soldaten, den Ibn Baddscha zum Vertrauten und ersten
Minister. Dieser Mann nun war in den mathematischen
Wissenschaften, besonders in der Astronomie und Musik, dazu in
der Medizin, theoretisch und praktisch bewandert und gab sich
mit logischen, naturphilosophischen und metaphysischen
Spekulationen ab. Er war nach der Ansicht der Fanatiker ein
ganz verrückter Atheist und unsittlicher Mensch.
Von dem äußeren Leben Ibn Baddschas wissen wir ferner nur,
dass er im Jahre 1118 nach dem Falle Saragossas zu Sevilla
war, wo er mehrere seiner Schriften verfasste, darauf in
Granada, und dass er sich nach Fez an den Almoravidenhof
begab, wo er im Jahre 1138 starb. Der Überlieferung nach fand
er, auf Veranlassung eines neidischen Arztes, den Gifttod.
Glücklich war, nach seinem [157]Selbstbekenntnis, sein kurzes
Leben nicht gewesen. Oft hatte er sich, als letzte Zuflucht,
den Tod herbeigesehnt. Materielle Not, vor allem geistige
Vereinsamung mögen ihn gedrückt haben. Dass er zu seiner Zeit,
in seiner Umgebung, sich nicht heimisch fühlen konnte, zeigen
zur Genüge die erhaltenen Schriften.
3. Er schließt sich fast ganz an Farabi, den einsamen,
stillen Mann des Orients an. Wie dieser hat er wenig
systematisiert. Die Zahl seiner selbständigen Abhandlungen ist
nicht groß. Aus kurzen Erläuterungen zu den aristotelischen
und anderen philosophischen Schriften besteht das meiste.
Seine Bemerkungen sind abgerissen, bald fängt er hier, bald
dort von neuem an. Mit immer neuen Ansätzen sucht er sich dem
griechischen Gedanken zu nähern, von den verschiedensten
Seiten in die alte Wissenschaft einzudringen. Die Philosophie
wird er nicht los, und er wird nicht fertig mit ihr. Auf den
ersten Blick macht das einen verwirrenden Eindruck. Im dunklen
Drange aber ist der Philosoph sich seiner Wege bewusst. Auf
der Suche nach Wahrheit und Recht findet er ein anderes,
Einheit und Freude seines Lebens. Gazali hat es sich, seiner
Meinung nach, gar zu leicht gemacht, als er glaubte, nur im
Vollbesitz der durch göttliche Erleuchtung erfassten Wahrheit
glücklich sein zu können. Der Wahrheit zu liebe, die sich in
den sinnlichen Bildern religiöser Mystik mehr verhüllt als
aufdeckt, soll der Philosoph stark genug sein, jenem Glücke zu
entsagen. Nur vom reinen Denken, das keine Sinnenlust trübt,
wird die höchste Gottheit geschaut.
4. In seinen logischen Schriften hat Ibn Baddscha sich kaum
von Farabi entfernt. Auch seine physischen und metaphysischen
Lehren stimmen im allgemeinen zu den Ansichten des Meisters.
Nur die Art und Weise, in der er die Entwicklungsgeschichte
des menschlichen Geistes und die Stellung des Menschen in
Wissenschaft und Leben darlegt, darf einiges Interesse
beanspruchen.
Zwei Arten des Seienden gibt es ihm zufolge: ein bewegtes
[158]und ein unbewegtes. Das Bewegte ist körperlich, begrenzt,
aber seine ewige Bewegung lässt sich aus dem endlichen Körper
nicht erklären. Es bedarf, im Gegenteil, zur Erklärung dieser
unendlichen Bewegung einer unendlichen Kraft oder eines ewigen
Wesens, des Geistes. Indem nun das Körperliche oder Natürliche
von außen bewegt wird und der Geist, selbst unbewegt, dem
Körperlichen Bewegung verleiht, steht das Seelische als das
sich selbst Bewegende in der Mitte. Das Verhältnis nun
zwischen dem Natürlichen und dem Seelischen macht dem Ibn
Baddscha ebensowenig Mühe wie seinen Vorgängern. Das
Hauptproblem aber ist dieses: Wie verhalten sich Seele und
Geist zu einander, namentlich im Menschen?
5. Ibn Baddscha geht von der Voraussetzung aus, dass der
Stoff nicht ohne irgend eine Form sein kann, wohl aber die
Form rein für sich ohne Stoff. Sonst nämlich ließe sich
überhaupt keine Veränderung denken, denn dieselbe ist nur
möglich durch das Kommen und Gehen der substantiellen Formen.
Diese Formen nun, vom Hylischen bis zum rein Geistigen,
bilden eine Reihe, der die Entwicklung des menschlichen
Geistes entspricht, sofern nämlich er das Vernunftideal
verwirklicht.1 Des Menschen Aufgabe ist es, sämtliche
geistigen Formen zu erfassen, zunächst die intelligibelen
Formen alles Körperlichen, dann die sinnlich-geistigen
Vorstellungen der Seele, darauf den Menschengeist selbst und
den thätigen Geist über ihn, endlich die reinen Geister der
Himmelsphären. Durch successive Erhebung aus dem
Individuellen, Sinnlichen, dessen Vorstellung den Stoff des
Geistes bildet, gelangt der Mensch zum Übermenschlichen und
Göttlichen. Dazu führt ihn nun die Philosophie oder die
Erkenntnis des Allgemeinen, die durch Studium und Nachdenken
aus der Erkenntnis des Individuellen, aber mit Hilfe des
erleuchtenden Geistes von oben hervorgeht. [159]Gegenüber
dieser Erkenntnis des Allgemeinen oder Unendlichen, in dem
Sein und Gedachtwerden zusammenfallen, erweist sich alles
Wahrnehmen und Vorstellen als trüglich. In der
Vernunfterkenntnis also und nicht in mystisch-religiösen
Träumereien, denen immer Sinnliches anhaftet, erreicht der
menschliche Geist seine Vollkommenheit. Denken ist die höchste
Seligkeit, denn alles Intelligibele ist seiner selbst Zweck.
Da es aber das Allgemeine ist, so lässt sich ein Fortbestehen
individueller Menschengeister über dieses Leben hinaus nicht
annehmen. Es möge die Seele, die im sinnlich-geistigen
Vorstellungsleben das Individuelle erfasst und in einzelnen
Begierden und Handlungen sich kund gibt, nach dem Tode weiter
bestehen können und Strafe oder Belohnung erhalten, der Geist
aber oder der vernünftige Teil der Seele ist in allen eins.
Ewig ist nur der Geist der ganzen Menschheit in seiner
Vereinigung mit dem thätigen Geiste über ihm. Diese Lehre,
unter dem Namen des Averroes in das christliche Mittelalter
eingedrungen, findet sich also schon bei Ibn Baddscha, wenn
nicht ganz scharf gefasst, doch klarer als bei Farabi.
6. Nicht jeder Mensch erhebt sich zu solcher Höhe der
Betrachtung. Die meisten tasten immer im Dunkeln herum, nur
Schattenrisse der Dinge sehen sie und wie Schatten werden sie
vergehen. Einige sehen das Licht zwar und die farbige Welt der
Dinge, aber ganz wenige erkennen das Wesen dessen, was sie
gesehen. Nur die letzteren, die Seligen, erreichen das ewige
Leben, in dem sie selbst zu Licht werden.
Wie gerät nun aber der Einzelne zu dieser Stufe des
Erkennens und seligen Seins? Durch vernünftiges Handeln und
freie Ausbildung seiner intellektuellen Kräfte. Vernünftiges
Handeln ist freies d. h. zweckbewusstes Handeln. Wenn einer z.
B. einen Stein zerschlägt, weil er sich daran gestoßen, so
handelt er zwecklos wie ein Tier oder ein Kind; thut er es
aber, damit sich andere nicht [160]daran stoßen werden, so ist
seine That menschlich, vernünftig zu nennen.
Um menschlich leben, vernünftig handeln zu können, muss
unter Umständen der Einzelne sich aus der Gesellschaft
zurückziehen. Ibn Baddschas Ethik heißt “die Leitung des
Einsamen”. Zur Selbsterziehung fordert sie auf. In der Regel
aber kann man sich der Vorteile menschlichen Zusammenlebens
bedienen, ohne die Nachteile mit in den Kauf zu nehmen. Zu
kleineren oder größeren Verbänden können die Weisen sich
zusammenschließen, ja das ist sogar ihre Pflicht, wenn sie
sich treffen. Sie bilden dann einen Staat im Staate.
Naturgemäß versuchen sie zu leben, sodass unter ihnen weder
Arzt noch Richter nötig ist. Wie Pflanzen in freier Luft
wachsen sie auf und brauchen die Kunst der Gärtner nicht. Von
den niederen Genüssen und Gesinnungen der Menge halten sie
sich fern. Sie sind Fremdlinge in dem weltlichen Treiben der
Gesellschaft. Und da sie Freunde unter einander sind, wird
dieses Leben ganz von der Liebe bestimmt. Und als Freunde
Gottes, der die Wahrheit ist, finden sie ihre Ruhe in der
Vereinigung mit dem übermenschlichen Geiste der Erkenntnis.