Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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VI. Die Philosophie im Westen

1. Die Anfänge

1. Zum muslimischen Occidente rechnet man das westliche Nordafrika, Spanien und Sizilien. Nordafrika hat zunächst untergeordnete Bedeutung. Sizilien richtet sich nach Spanien und wird bald von den Nordmannen Unteritaliens unterworfen. Für unseren Zweck kommt zunächst das muslimische Spanien oder Andalusien in Betracht.

Das Kulturschauspiel des Orients erlebt hier eine zweite Aufführung. Wie dort Araber mit Persern, so vermählen sich hier Araber mit Spaniern. Und statt der Türken und Mongolen gibt es hier die Berbern Nordafrikas, deren rohe Kraft immer mehr zerstörend in das Spiel feinerer Bildung eingreift.

Nach dem Sturze der Omajjaden in Syrien (750) hat sich einer aus ihrem Hause, Abderrachman ibn Moawia, nach Spanien begeben, wo er sich zum Emir von Kordova und ganz Andalusien emporzuarbeiten wusste. Über 250 Jahre dauerte diese Omajjadenherrschaft und erreichte, nach vorübergehender Kleinstaaterei, unter Abderrachman III. (912–961), dem ersten, der sich Chalif nennen ließ, und dessen Sohn al-Hakam II. (961–976) ihren Glanzpunkt. Das zehnte Jahrhundert war für Spanien, was das neunte für den Orient: die Zeit höchster materieller und geistiger Kultur. Wenn möglich war sie hier frischer, naturwüchsiger als dort. Produktiver, wenn es wahr ist, dass alles Theoretisieren entweder einen Mangel oder eine [154]Stockung der Produktionskraft bedeutet. Die Wissenschaften, und besonders die Philosophie, fanden hier nämlich weit weniger Vertreter. Überhaupt waren die Verhältnisse geistigen Lebens einfacher gestaltet. Die Zahl alter Kulturschichten war geringer. Wohl hatte man hier außer Muslimen Juden und Christen, die sich zu Abderrachmans III. Zeit gemeinschaftlich am Kulturleben arabischen Stempels beteiligten. Aber Anhänger des Zoroaster, Atheisten u. s. w. gab es nicht. Auch waren die Parteiungen des östlichen Islam fast unbekannt. Nur eine Rechtschule, die des Malik, fand Eingang. Mutazilitische Dialektik störte nicht den Frieden des Glaubens. Zwar verherrlichten die andalusischen Dichter die Dreiheit: Wein, Weib und Gesang, aber frivole Freigeisterei einerseits, düstere Weltflucht und Theosophie andererseits kamen nur selten zum Ausdruck.

Im ganzen war die geistige Kultur vom Orient abhängig. Seit dem zehnten Jahrhundert wurden aus Spanien viele wissenschaftliche Reisen dorthin, über Ägypten bis zum östlichen Persien, unternommen, um den Vorlesungen berühmter Gelehrten beizuwohnen. Und das Bedürfnis nach Bildung in Andalusien lockte auch manch orientalischen Gelehrten, der in seiner Heimat keine Beschäftigung fand, herbei. Dazu ließ al-Hakam II. überall im Osten Bücher abschreiben für seine Bibliothek, deren Bändezahl auf 400000 angegeben wird.

Hauptsächlich interessierte der Westen sich für Mathematik und Naturwissenschaft, Astrologie und Medizin, ebenso wie anfangs der Osten. Poesie, Geschichte und Geographie wurden eifrig gepflegt. Der Geist war noch von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt. Als Abdallah ibn Masarra von Kordova, unter Abderrachman III., mit Naturphilosophie nach Hause kam, musste er seine Schriften verbrennen sehen.

2. Im Jahre 1013 wurde Kordova, “die Zierde der Welt”, von den Berbern verwüstet und das Omajjadenreich [155]zerfiel in eine Anzahl kleiner Staaten. Ihre Nachblüte füllt das elfte Jahrhundert, die mediceische Zeit Spaniens, aus. An den städtischen Höfen gedeihen noch Kunst und Poesie, üppig wuchernd auf den Trümmern alter Herrlichkeit. Die Kunst verfeinert sich, die Poesie wird weise, subtil der wissenschaftliche Gedanke. Aus dem Orient zieht man immerfort geistige Nahrung. Naturphilosophie, die Schriften der treuen Brüder, die Logik aus der Schule des Abu Sulaiman al-Sidschistani halten nach einander ihren Einzug. Gegen Ende des Jahrhunderts spürt man auch den Einfluss der Schriften Farabis und wird Ibn Sinas Medizin bekannt.

Die Anfänge philosophischen Nachdenkens finden wir zumeist bei den zahlreichen gebildeten Juden. Mächtig und ganz eigenartig wirkt die Naturphilosophie des Ostens auf Ibn Gebirol, den Avencebrol christlicher Schriftsteller. Bachja ibn Pakuda wird von den treuen Brüdern beeinflusst. Sogar die religiöse Poesie der Juden wird von der philosophischen Bewegung ergriffen. Es spricht darin die Seele, die sich zum Geiste erhebt, nicht die jüdische Gemeinde, die ihren Gott sucht.

Unter den Muslimen blieb die Zahl derjenigen, die sich eingehend mit Philosophie beschäftigten, sehr beschränkt. Kein Meister sammelte eine zahlreiche Jüngerschaar um sich, gelehrte Sitzungen, in denen über philosophische Gegenstände disputiert wurde, fanden kaum statt. So musste sich hier der einzelne Denker wohl ganz vereinsamt fühlen. Subjektiv wie im Orient, bildete sich auch im Westen die Philosophie aus. Aber sie war hier mehr nur die Sache vereinzelter Individuen und stand dazu dem Glauben der Menge ferner. Im Orient gab es zahllose Vermittelungen zwischen Glauben und Wissen, zwischen den Philosophen und der gläubigen Gemeinde. Das Problem des denkenden Individuums gegenüber der staatlichen Gesellschaft und dem Glauben beschränkter fanatischer Massen wurde daher im Westen schärfer gefasst. [156]

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