Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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II. Philosophie und arabisches Wissen

4. Literatur und Geschichte

1. Arabische Poesie und Annalistik haben sich unabhängig von Schulgelehrsamkeit ausgebildet. Im Laufe der Zeit aber wussten Litteratur und Geschichtschreibung sich nicht von fremden Einflüssen rein zu erhalten. Mit einigen Andeutungen, dies zu erhärten, müssen wir uns hier begnügen.

Einen Bruch mit der poetischen Tradition des Arabertums, wie ihn das Christentum in der germanischen Welt verursachte, bedeutete die Einführung des Islam nicht. Schon die weltliche Litteratur der Omajjadenzeit überlieferte viele Weisheitssprüche, zum Teil aus der altarabischen Poesie, die der Koranpredigt Konkurrenz machten. Abbasidenchalife, wie Mansur, Harun und Mamun, waren litterarisch gebildeter als Karl der Große. Ihre Söhne wurden nicht nur mit Koranlektüre erzogen, sondern auch mit den alten Dichtern und der Volksgeschichte bekannt gemacht. Dichter und Litteraten wurden an die Höfe gezogen und fürstlich belohnt. Dort erfuhr dann die Litteratur den Einfluss gelehrter Bildung und philosophischer Spekulation, wenn auch in den meisten Fällen recht oberflächlich. Dies zeigt sich vor allem in skeptischen Äußerungen, frivoler Verspottung des Heiligsten und Verherrlichung des Sinnengenusses. Daneben aber drangen weise Sprüche, ernste Betrachtungen, mystische Spekulationen in die anfangs nüchtern-realistische Poesie der Araber ein. Statt der sinnlichen Frische der Darstellung trat ein ermüdendes Spiel mit Gedanken und Gefühlen, wenn nicht gar mit leeren Worten, Metren und Reimen, ein.

2. Der hässliche Abu-l-Atahia (748–828) redet in seiner süßlichen Poesie fast immer von unglücklicher Liebe und Verlangen nach dem Tode. Seine Weisheit spricht er in diesen Versen aus:

Lass nach dem Zweifel den Verstand sich richten:

Vor Sünde schützt am besten das Verzichten.

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Wer nur einiges Verständnis für das Leben und für Naturpoesie besitzt, wird sich an seinen Weltentsagungsgedichten ebensowenig erfreuen können, wie an den der Form nach zwar epigrammatischen, dem Inhalte nach aber furchtbar langweiligen Versen des Mutanabbi (905–965), den man wohl als den größten arabischen Dichter gefeiert hat.

Ebenso hat man über Gebühr Abu-l-Ala al-Maarri (973–1058) als philosophischen Dichter erhoben. Seine, mitunter ganz ehrenwerten Gesinnungen und verständigen Ansichten sind weder Philosophie noch ist der gekünstelte und oft banale Ausdruck dafür Poesie. Als Philologe oder Historiker hätte dieser Mann bei günstigeren Verhältnissen (er war blind und nicht übermäßig reich) vielleicht in der niederen Kritik etwas leisten können. Nun aber muss er statt Begeisterung für das Leben freudenlose Entsagung predigen, an den politischen Verhältnissen, den Anschauungen der gläubigen Menge und den wissenschaftlichen Behauptungen der Gelehrten herumnörgeln, ohne selbst etwas Positives aufstellen zu können. Es fehlt ihm fast ganz die Gabe der Kombination. Analysieren kann er, aber er findet keine Synthese. Sein Wissen ist unfruchtbar. Der Baum seiner Erkenntnis hat die Wurzeln in der Luft, wie er selbst in einem seiner Briefe, wohl in anderem Sinne, eingesteht. Er lebt als strenger Cölibatär und Vegetarianer, wie es sich für einen Pessimisten geziemt. Es ist ja Alles, wie er in seinen Gedichten ausspricht, eitel Tand. Das Geschick ist blind, die Zeit verschont weder den König, der des Lebens genießt, noch den Frommen, der seine Nächte durchwacht. Auch der widervernünftige Glaube löst uns des Daseins Rätsel nicht. Was es hinter dem bewegten Himmel geben mag, bleibt uns ewig verborgen. Religionen, welche da eine Aussicht eröffnen, sind vom Eigennutz erfunden. Allerhand Sekten und Parteiungen werden von den Mächtigen benutzt, ihre Gewalt zu sichern. Die Wahrheit darüber darf man nur leise [65]sagen. Darum ist es das klügste, sich von der Welt entfernt zu halten, uneigennützig Gutes zu thun, weil dies tugendhaft und schön ist, ohne irgendwelche Aussicht auf Belohnung.

Andere Schöngeister hatten eine praktischere Philosophie und wussten sich besser in der Welt geltend zu machen. Sie huldigten der klugen Lehre des Theaterdirektors aus Goethes Faust: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Der vollendetste Typus dieser Art ist Hariri (1054–1122), dessen Held, der Bettler und Landstreicher Abu Zaid von Serug als höchste Weisheit lehrt:

Hetze, statt gehetzt zu werden;

Welt ist all ein Wald für Hatzen.

Wenn der Falke dir entgangen,

Nimm fürlieb nur mit dem Spatzen;

Und erhältst du nicht den Thaler,

So begnüg’ dich mit dem Batzen.5

3. Wie die Poesie, so zeichnete sich auch die Annalistik der alten Araber durch scharfe Erfassung des Einzelnen aus, war aber einer Gesamtauffassung der Ereignisse nicht fähig. Mit der gewaltigen Ausdehnung des Reiches erweiterte sich dann der Blick. Zunächst wurde ein großes Material gesammelt. Mehr als die religiösen Pilgerzüge förderten Reisen zur Sammlung von Traditionen, zum Zwecke der Verwaltung und des Handels, oder auch zur Befriedigung der Neugier unternommen, das geschichtliche und geographische Wissen. Eigentümliche Methoden der Forschung, auf den Wert der Überlieferung als Quelle unseres Wissens sich beziehend, wurden ausgearbeitet. Mit derselben Subtilität, wie in der Grammatik, ein ausgedehntes Feld der Beobachtung ins Unendliche einteilend, mehr arabeskenhaft als übersichtlich, bildete sich so eine Logik der Geschichte aus, die dem orientalischen Auge um vieles schöner erscheinen musste als das aristotelische [66]Organon in seinem strengen Aufbau. Von vielen wurde die Überlieferung, mit deren Beglaubigung man es in der Regel praktisch weniger genau nahm als in der Theorie, dem Sinnenzeugnisse gleichgesetzt, und dem Verstandesurteile, das ja so leicht Fehlschlüsse zulasse, vorgezogen.

Es gab aber immer Leute, die unparteiisch sich widersprechende Berichte neben einander überlieferten. Andere, obgleich mit Schonung für die Gefühle und Bedürfnisse der Gegenwart, hielten ihr mehr oder weniger begründetes Urteil über Vergangenes nicht zurück, wie es denn oft leichter ist, aus der Geschichte als aus dem Leben klug zu werden.

Neue Gegenstände der Forschung, neue Betrachtungsweisen traten hinzu. Die Erdkunde nahm, z. B. in der Klimatogeographie, Naturphilosophisches auf, die Geschichtsschreibung zog auch das geistige Leben, Glauben und Sitte, Litteratur und Wissenschaft in den Bereich ihrer Darstellung. Die Bekanntschaft mit anderen Ländern und Völkern forderte vielfach zum Vergleiche auf. Und es kam also ein internationales, humanistisches Element herein.

4. Ein Vertreter humanistischer Sinnesweise ist Masudi (gest. etwa 956). Er hat Interesse und Verständnis für Alles, was menschlich ist. Überall lernt er von den Menschen, denen er begegnet, und infolgedessen ist die Bücherlektüre, die seine Einsamkeit ausfüllt, nicht unfruchtbar. Weder die enge Praxis des Lebens und Glaubens, noch die luftigen Spekulationen der Philosophie sagen ihm zu. Er kennt sein Talent. Und er findet bis zuletzt, wenn er fern von der Heimat in Ägypten sein Alter verbringt, seinen Trost, die Medizin seiner Seele, in dem Studium der Geschichte. Die Geschichte ist ihm die allesumfassende Wissenschaft, seine Philosophie, die die Wahrheit dessen, was war und ist, darzustellen hat. Auch die Weltweisheit mit ihrer Entwicklung wird der Geschichte zum Gegenstande. Ohne diese wäre ja alles Wissen längst zu Grunde gegangen. Denn die Gelehrten kommen [67]und gehen, aber die Geschichte verzeichnet ihre Geistesthaten und stellt dadurch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart her. Ohne Vorurteil berichtet sie über die Ereignisse und über die Ansichten der Menschen. Freilich, die Synthese der Thatsachen und die eigene Meinung des Verfassers herauszufinden, das überlässt Masudi oft dem verständigen Leser.

Nach ihm darf rühmend hervorgehoben werden der Geograph Maqdasi (oder Muqaddasi, schrieb im Jahre 985), der viele Länder durchreiste und in den verschiedensten Berufen auftrat, das Leben seiner Zeit kennen zu lernen. Er ist ein wahrer Abu Zaid von Serug (vgl. II, 4 § 2), nur dass er einen Zweck hat.

Kritisch geht er ans Werk. Er hält sich zu der Wissenschaft, die man durch Forschen und Nachfragen, nicht durch Traditionsglauben oder reine Vernunftschlüsse gewinnt. Was Geographisches im Koran steht, erklärt er sich aus dem engen Gesichtskreise der Araber, dem Allah sich anbequemt haben soll.

Sine ira et studio beschreibt er nun die Länder und Völker, die er mit eigenen Augen sah. Er will an erster Stelle Selbsterlebtes darstellen, dann was er von glaubwürdigen Leuten vernommen, und endlich was er in Büchern gefunden. Aus seiner Selbstcharakteristik sind die folgenden Sätze zusammengezogen:

“Ich habe allgemeine Bildung und Pflichtenlehre unterrichtet, bin als Prediger aufgetreten und habe von dem Minarete der Moscheen den Gebetsruf erschallen lassen. Gelehrten Sitzungen und frommen Übungen habe ich beigewohnt. Ich habe Suppe mit den Sufis, Brei mit den Mönchen und Schiffskost mit den Matrosen gegessen. Manchmal war ich die Eingezogenheit selbst, dann wieder aß ich verbotene Speisen gegen mein besseres Wissen. Ich ging mit den Einsiedlern des Libanons um und dann wieder lebte ich am fürstlichen Hofe. Kriege habe ich mitgemacht, auch saß ich gefangen und wurde als Spion [68]in den Kerker geworfen. Mächtige Fürsten und Minister gaben mir Gehör, dann schloss ich mich wieder einer Räuberbande an oder saß als Kleinhändler auf dem Markte. Viel Ehren und Ansehen genoss ich, aber ebenso musste ich Schimpfworte hören und mich zum Eide erniedrigen, als ich der Ketzerei oder schlechter Handlungen verdächtigt ward.”6

Wir sind heutigen Tages gewöhnt, uns den Orientalen in beschaulicher Ruhe, Glauben und Sitte der Väter ergeben, vorzustellen. Ganz richtig ist die Vorstellung nicht. Aber weit weniger als zu der gegenwärtigen Lage stimmt sie zu der Verfassung des Islam in den ersten vier Jahrhunderten, als dieser sich anschickte, den Besitz nicht nur der äußeren Güter der Welt, sondern auch der geistigen Errungenschaften der Menschheit zu ergreifen. [69]

1 Beides kommt vor, doch ist Qijas gewöhnlich = Analogie. In der philosophischen, von den Übersetzern herrührenden Terminologie steht aber Qijas immer für συλλογισμός, während ἀναλογία mit arab. mithl wiedergegeben wird. ↑

2 Vgl. Snouck Hurgronje in ZDMG. LIII, S. 155. ↑

3 Mystiker führten auch wohl einen sechsten Sinn dafür ein. ↑

4 Nach ihrem grobwollenen Rock (sûf) wurden die Asketen Sufis genannt. ↑

5 Rückerts Übers. d. Makamen II, S. 219. ↑

6 Vgl. v. Kremer, Kulturgesch. des Orients II, S. 429 ff. ↑

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