II. Philosophie und arabisches Wissen
4. Literatur und Geschichte
1. Arabische Poesie und Annalistik haben sich unabhängig
von Schulgelehrsamkeit ausgebildet. Im Laufe der Zeit aber
wussten Litteratur und Geschichtschreibung sich nicht von
fremden Einflüssen rein zu erhalten. Mit einigen Andeutungen,
dies zu erhärten, müssen wir uns hier begnügen.
Einen Bruch mit der poetischen Tradition des Arabertums,
wie ihn das Christentum in der germanischen Welt verursachte,
bedeutete die Einführung des Islam nicht. Schon die weltliche
Litteratur der Omajjadenzeit überlieferte viele
Weisheitssprüche, zum Teil aus der altarabischen Poesie, die
der Koranpredigt Konkurrenz machten. Abbasidenchalife, wie
Mansur, Harun und Mamun, waren litterarisch gebildeter als
Karl der Große. Ihre Söhne wurden nicht nur mit Koranlektüre
erzogen, sondern auch mit den alten Dichtern und der
Volksgeschichte bekannt gemacht. Dichter und Litteraten wurden
an die Höfe gezogen und fürstlich belohnt. Dort erfuhr dann
die Litteratur den Einfluss gelehrter Bildung und
philosophischer Spekulation, wenn auch in den meisten Fällen
recht oberflächlich. Dies zeigt sich vor allem in skeptischen
Äußerungen, frivoler Verspottung des Heiligsten und
Verherrlichung des Sinnengenusses. Daneben aber drangen weise
Sprüche, ernste Betrachtungen, mystische Spekulationen in die
anfangs nüchtern-realistische Poesie der Araber ein. Statt der
sinnlichen Frische der Darstellung trat ein ermüdendes Spiel
mit Gedanken und Gefühlen, wenn nicht gar mit leeren Worten,
Metren und Reimen, ein.
2. Der hässliche Abu-l-Atahia (748–828) redet in seiner
süßlichen Poesie fast immer von unglücklicher Liebe und
Verlangen nach dem Tode. Seine Weisheit spricht er in diesen
Versen aus:
Lass nach dem Zweifel den Verstand sich richten:
Vor Sünde schützt am besten das Verzichten.
[64]
Wer nur einiges Verständnis für das Leben und für
Naturpoesie besitzt, wird sich an seinen
Weltentsagungsgedichten ebensowenig erfreuen können, wie an
den der Form nach zwar epigrammatischen, dem Inhalte nach aber
furchtbar langweiligen Versen des Mutanabbi (905–965), den man
wohl als den größten arabischen Dichter gefeiert hat.
Ebenso hat man über Gebühr Abu-l-Ala al-Maarri (973–1058)
als philosophischen Dichter erhoben. Seine, mitunter ganz
ehrenwerten Gesinnungen und verständigen Ansichten sind weder
Philosophie noch ist der gekünstelte und oft banale Ausdruck
dafür Poesie. Als Philologe oder Historiker hätte dieser Mann
bei günstigeren Verhältnissen (er war blind und nicht
übermäßig reich) vielleicht in der niederen Kritik etwas
leisten können. Nun aber muss er statt Begeisterung für das
Leben freudenlose Entsagung predigen, an den politischen
Verhältnissen, den Anschauungen der gläubigen Menge und den
wissenschaftlichen Behauptungen der Gelehrten herumnörgeln,
ohne selbst etwas Positives aufstellen zu können. Es fehlt ihm
fast ganz die Gabe der Kombination. Analysieren kann er, aber
er findet keine Synthese. Sein Wissen ist unfruchtbar. Der
Baum seiner Erkenntnis hat die Wurzeln in der Luft, wie er
selbst in einem seiner Briefe, wohl in anderem Sinne,
eingesteht. Er lebt als strenger Cölibatär und Vegetarianer,
wie es sich für einen Pessimisten geziemt. Es ist ja Alles,
wie er in seinen Gedichten ausspricht, eitel Tand. Das
Geschick ist blind, die Zeit verschont weder den König, der
des Lebens genießt, noch den Frommen, der seine Nächte
durchwacht. Auch der widervernünftige Glaube löst uns des
Daseins Rätsel nicht. Was es hinter dem bewegten Himmel geben
mag, bleibt uns ewig verborgen. Religionen, welche da eine
Aussicht eröffnen, sind vom Eigennutz erfunden. Allerhand
Sekten und Parteiungen werden von den Mächtigen benutzt, ihre
Gewalt zu sichern. Die Wahrheit darüber darf man nur leise
[65]sagen. Darum ist es das klügste, sich von der Welt
entfernt zu halten, uneigennützig Gutes zu thun, weil dies
tugendhaft und schön ist, ohne irgendwelche Aussicht auf
Belohnung.
Andere Schöngeister hatten eine praktischere Philosophie
und wussten sich besser in der Welt geltend zu machen. Sie
huldigten der klugen Lehre des Theaterdirektors aus Goethes
Faust: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Der
vollendetste Typus dieser Art ist Hariri (1054–1122), dessen
Held, der Bettler und Landstreicher Abu Zaid von Serug als
höchste Weisheit lehrt:
Hetze, statt gehetzt zu werden;
Welt ist all ein Wald für Hatzen.
Wenn der Falke dir entgangen,
Nimm fürlieb nur mit dem Spatzen;
Und erhältst du nicht den Thaler,
So begnüg’ dich mit dem Batzen.5
3. Wie die Poesie, so zeichnete sich auch die Annalistik
der alten Araber durch scharfe Erfassung des Einzelnen aus,
war aber einer Gesamtauffassung der Ereignisse nicht fähig.
Mit der gewaltigen Ausdehnung des Reiches erweiterte sich dann
der Blick. Zunächst wurde ein großes Material gesammelt. Mehr
als die religiösen Pilgerzüge förderten Reisen zur Sammlung
von Traditionen, zum Zwecke der Verwaltung und des Handels,
oder auch zur Befriedigung der Neugier unternommen, das
geschichtliche und geographische Wissen. Eigentümliche
Methoden der Forschung, auf den Wert der Überlieferung als
Quelle unseres Wissens sich beziehend, wurden ausgearbeitet.
Mit derselben Subtilität, wie in der Grammatik, ein
ausgedehntes Feld der Beobachtung ins Unendliche einteilend,
mehr arabeskenhaft als übersichtlich, bildete sich so eine
Logik der Geschichte aus, die dem orientalischen Auge um
vieles schöner erscheinen musste als das aristotelische
[66]Organon in seinem strengen Aufbau. Von vielen wurde die
Überlieferung, mit deren Beglaubigung man es in der Regel
praktisch weniger genau nahm als in der Theorie, dem
Sinnenzeugnisse gleichgesetzt, und dem Verstandesurteile, das
ja so leicht Fehlschlüsse zulasse, vorgezogen.
Es gab aber immer Leute, die unparteiisch sich
widersprechende Berichte neben einander überlieferten. Andere,
obgleich mit Schonung für die Gefühle und Bedürfnisse der
Gegenwart, hielten ihr mehr oder weniger begründetes Urteil
über Vergangenes nicht zurück, wie es denn oft leichter ist,
aus der Geschichte als aus dem Leben klug zu werden.
Neue Gegenstände der Forschung, neue Betrachtungsweisen
traten hinzu. Die Erdkunde nahm, z. B. in der
Klimatogeographie, Naturphilosophisches auf, die
Geschichtsschreibung zog auch das geistige Leben, Glauben und
Sitte, Litteratur und Wissenschaft in den Bereich ihrer
Darstellung. Die Bekanntschaft mit anderen Ländern und Völkern
forderte vielfach zum Vergleiche auf. Und es kam also ein
internationales, humanistisches Element herein.
4. Ein Vertreter humanistischer Sinnesweise ist Masudi
(gest. etwa 956). Er hat Interesse und Verständnis für Alles,
was menschlich ist. Überall lernt er von den Menschen, denen
er begegnet, und infolgedessen ist die Bücherlektüre, die
seine Einsamkeit ausfüllt, nicht unfruchtbar. Weder die enge
Praxis des Lebens und Glaubens, noch die luftigen
Spekulationen der Philosophie sagen ihm zu. Er kennt sein
Talent. Und er findet bis zuletzt, wenn er fern von der Heimat
in Ägypten sein Alter verbringt, seinen Trost, die Medizin
seiner Seele, in dem Studium der Geschichte. Die Geschichte
ist ihm die allesumfassende Wissenschaft, seine Philosophie,
die die Wahrheit dessen, was war und ist, darzustellen hat.
Auch die Weltweisheit mit ihrer Entwicklung wird der
Geschichte zum Gegenstande. Ohne diese wäre ja alles Wissen
längst zu Grunde gegangen. Denn die Gelehrten kommen [67]und
gehen, aber die Geschichte verzeichnet ihre Geistesthaten und
stellt dadurch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart
her. Ohne Vorurteil berichtet sie über die Ereignisse und über
die Ansichten der Menschen. Freilich, die Synthese der
Thatsachen und die eigene Meinung des Verfassers
herauszufinden, das überlässt Masudi oft dem verständigen
Leser.
Nach ihm darf rühmend hervorgehoben werden der Geograph
Maqdasi (oder Muqaddasi, schrieb im Jahre 985), der viele
Länder durchreiste und in den verschiedensten Berufen auftrat,
das Leben seiner Zeit kennen zu lernen. Er ist ein wahrer Abu
Zaid von Serug (vgl. II, 4 § 2), nur dass er einen Zweck hat.
Kritisch geht er ans Werk. Er hält sich zu der
Wissenschaft, die man durch Forschen und Nachfragen, nicht
durch Traditionsglauben oder reine Vernunftschlüsse gewinnt.
Was Geographisches im Koran steht, erklärt er sich aus dem
engen Gesichtskreise der Araber, dem Allah sich anbequemt
haben soll.
Sine ira et studio beschreibt er nun die Länder und Völker,
die er mit eigenen Augen sah. Er will an erster Stelle
Selbsterlebtes darstellen, dann was er von glaubwürdigen
Leuten vernommen, und endlich was er in Büchern gefunden. Aus
seiner Selbstcharakteristik sind die folgenden Sätze
zusammengezogen:
“Ich habe allgemeine Bildung und Pflichtenlehre
unterrichtet, bin als Prediger aufgetreten und habe von dem
Minarete der Moscheen den Gebetsruf erschallen lassen.
Gelehrten Sitzungen und frommen Übungen habe ich beigewohnt.
Ich habe Suppe mit den Sufis, Brei mit den Mönchen und
Schiffskost mit den Matrosen gegessen. Manchmal war ich die
Eingezogenheit selbst, dann wieder aß ich verbotene Speisen
gegen mein besseres Wissen. Ich ging mit den Einsiedlern des
Libanons um und dann wieder lebte ich am fürstlichen Hofe.
Kriege habe ich mitgemacht, auch saß ich gefangen und wurde
als Spion [68]in den Kerker geworfen. Mächtige Fürsten und
Minister gaben mir Gehör, dann schloss ich mich wieder einer
Räuberbande an oder saß als Kleinhändler auf dem Markte. Viel
Ehren und Ansehen genoss ich, aber ebenso musste ich
Schimpfworte hören und mich zum Eide erniedrigen, als ich der
Ketzerei oder schlechter Handlungen verdächtigt ward.”6
Wir sind heutigen Tages gewöhnt, uns den Orientalen in
beschaulicher Ruhe, Glauben und Sitte der Väter ergeben,
vorzustellen. Ganz richtig ist die Vorstellung nicht. Aber
weit weniger als zu der gegenwärtigen Lage stimmt sie zu der
Verfassung des Islam in den ersten vier Jahrhunderten, als
dieser sich anschickte, den Besitz nicht nur der äußeren Güter
der Welt, sondern auch der geistigen Errungenschaften der
Menschheit zu ergreifen. [69]
1 Beides kommt vor, doch ist Qijas gewöhnlich = Analogie.
In der philosophischen, von den Übersetzern herrührenden
Terminologie steht aber Qijas immer für συλλογισμός, während
ἀναλογία mit arab. mithl wiedergegeben wird. ↑
2 Vgl. Snouck Hurgronje in ZDMG. LIII, S. 155. ↑
3 Mystiker führten auch wohl einen sechsten Sinn dafür ein.
↑
4 Nach ihrem grobwollenen Rock (sûf) wurden die Asketen
Sufis genannt. ↑
5 Rückerts Übers. d. Makamen II, S. 219. ↑
6 Vgl. v. Kremer, Kulturgesch. des Orients II, S. 429 ff. ↑