II. Philosophie und arabisches Wissen
1. Die Sprachwissenschaft
1. Von muslimischen Gelehrten des zehnten Jahrhunderts
wurden die Wissenschaften in arabische und in alte oder
nichtarabische eingeteilt. Zu den ersteren gehörten
Sprachwissenschaft, Pflichten- und Glaubenslehre,
Litteraturkenntnis und Geschichte; zu den letzteren die
philosophischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen
Disziplinen. Im großen Ganzen ist die Einteilung richtig. Die
letztgenannten Fächer sind nicht nur am meisten von fremden
Einflüssen bestimmt, sondern auch nie recht populär geworden.
Doch sind auch die sogenannten arabischen Wissenschaften nicht
ganz rein einheimische Schöpfungen. Auch sie sind entstanden
oder ausgebildet, wo im muslimischen Reiche Araber und
Nichtaraber zusammentrafen und das Bedürfnis erwachte, über
die den Menschen nächstliegenden Gegenstände, Sprache und
Poesie, Recht und Religion, sofern sich darin Unterschiede
oder Unzulänglichkeiten zeigten, nachzudenken. In der Weise,
wie dieses geschah, spürt man deutlich den Einfluss von
Nichtarabern, namentlich Persern, und immer bedeutender macht
sich auch dabei die Einwirkung griechischer Philosophie
geltend.
2. Die arabische Sprache, an deren Wortfülle,
Formenreichtum und innerer Bildungsfähigkeit die Araber selbst
sich besonders erfreuten, eignete sich vorzüglich zu einer
Weltstellung. Besonders zeichnet sie sich, wenn man sie z. B.
mit der schwerfälligen lateinischen oder auch mit der
schwülstigen persischen vergleicht, durch kurze
Abstraktbildungen aus, was dem wissenschaftlichen Ausdrucke
[35]zu gute kam. Sie ist der feinsten Nuancierung fähig,
verführt aber auch durch eine reichentwickelte Synonymik dazu,
von der aristotelischen Regel, dass in der strengen
Wissenschaft der Gebrauch von Synonymen nicht zulässig sei,
abzuweichen.
Eine so elegante, ausdrucksfähige, aber schwierige Sprache,
wie es die arabische war, musste, als sie die Bildungssprache
der Syrer und Perser geworden, zu manchen Betrachtungen
Veranlassung bieten. Vor allem machte das Studium des Korans,
dessen Vortrag und Auslegung, eine eingehende Beschäftigung
mit der Sprache notwendig. Ungläubige glaubten auch wohl, im
heiligen Buche Sprachfehler nachweisen zu können. Man sammelte
also aus alten Gedichten und der lebendigen Beduinensprache
Beispiele, um die koranischen Ausdrücke zu belegen, woran sich
wohl Bemerkungen über Sprachrichtigkeit im allgemeinen
anschlossen. Im ganzen war der lebendige Brauch die
Richtschnur, aber um die Autorität des Korans zu retten, ging
es dabei gewiss nicht ohne Künsteleien ab. Den einfachen
Gläubigen war dieses Verfahren immerhin etwas bedenklich.
Masudi erzählt uns noch von einigen Grammatikern aus Basra,
die auf einer Lustfahrt einen koranischen Imperativ
durchconjugierten und deshalb (?) von den mit Dattelpflücken
beschäftigten Landleuten durchgeprügelt wurden.
3. Die Araber führen die Sprachwissenschaft, wie so vieles
Andere, auf Ali zurück, dem sogar die aristotelische
Dreiteilung der Rede zugeschrieben wird. In Wirklichkeit sind
die Anfänge in Basra und Kufa gemacht worden. Die erste
Entwicklung liegt im Dunkeln, denn in der Grammatik des
Sibawaih (gest. 786) haben wir eine fertige Gestalt, ein
Riesenwerk, das, wie nachher Ibn Sina’s Kanon der Medizin, die
späteren Geschlechter sich nur als das Erzeugnis vieler
zusammenarbeitender Gelehrten erklären konnten. Auch über die
Unterschiede zwischen den Schulen von Basra und Kufa sind wir
schlecht unterrichtet. Die [36]Basrenser, wie später die
Schule von Bagdad, sollen dem Qijas (der Analogie) einen
großen Einfluss auf die Beurteilung sprachlicher Erscheinungen
eingeräumt haben, während die Kufenser viele vom Qijas
abweichende Spracheigenheiten für erlaubt hielten. Im
Gegensatze zu den kufischen Grammatikern wurden aus dem Grunde
die anderen Leute der Logik genannt. Ihre Terminologie wich
von der kufischen im einzelnen ab. Viele, denen nach Ansicht
der echten Araber die Logik den Kopf verdreht hatte, werden in
der Meisterung der Sprache entschieden zu weit gegangen sein.
Andererseits aber wurde die Willkür zur Regel erhoben.
Dass die Schule von Basra sich zuerst logischer Hilfsmittel
bediente, wäre kein Zufall. Überhaupt zeigte sich in Basra am
ersten der Einfluss philosophischer Lehren, und unter ihren
Grammatikern befanden sich viele Schiiten und Mutaziliten, die
auch auf ihre Glaubenslehren einzuwirken fremder Weisheit
gerne gestatteten.
4. Die Sprachwissenschaft, sofern sie nicht, von
Gegenständen bestimmt, auf Sammlung von Beispielen, Synonymen
u. s. w. sich beschränkte, wurde von der aristotelischen Logik
beeinflusst. Syrer und Perser hatten schon vor muslimischer
Zeit die Schrift περὶ ἑρμηνείας, mit stoischen und
neuplatonischen Zusätzen, studiert. Ibn al-Moqaffa, der
anfangs mit dem Grammatiker Chalil (s. unten) befreundet war,
machte dann Alles, was sich sprachlich-logisches im Pahlawi
vorfand, den Arabern zugänglich. Es wurden darnach die
Satzarten, bald fünf, bald acht oder neun, und die drei
Redeteile, Nomen, Verbum und Partikel, aufgezählt. In der
Folgezeit nahmen einige, wie Dschahiz, unter die rhetorischen
Figuren auch Schlussfiguren der Logik auf. Und in späteren
Darstellungen wurde viel über Laut und Begriff gestritten und
die Frage erörtert, ob die Sprache durch Satzung oder von
Natur sei. Allmählich gewann die philosophische Ansicht, sie
sei durch Satzung, das Übergewicht. [37]
Neben der Logik kommt hier noch der Einfluss der
propädeutischen oder mathematischen Wissenschaften in
Betracht. Wie die Prosa des Verkehrs und die Reime des Korans
wurden die Verse der Dichter nicht bloß gesammelt, sondern
auch nach bestimmten Gesichtspunkten, unter denen das Metrum,
geordnet. Nach der Grammatik entstand die Metrik. Chalil
(gest. 791), der Lehrer Sibawaih’s, dem man die erste
Anwendung des Qijas in der Sprachwissenschaft zuschreibt, soll
auch die Metrik erfunden haben. Während man die Sprache als
das nationale, conventionelle Element in der Poesie anzusehen
lernte, glaubte man im Metrum das natürliche, allen Völkern
gemeinsame zu finden. Thabit ibn Qorra (836–901) behauptete
darum in seiner Anordnung der Wissenschaften, das Metrum sei
etwas Wesentliches, die Metrik eine natürliche Wissenschaft,
sie gehöre somit zur Philosophie.
5. Trotz alledem behielt die Sprachwissenschaft, die sich
auf das Arabische beschränkte, ihre Eigentümlichkeiten, auf
die hier einzugehen nicht am Platze ist. Jedenfalls ist sie
eine großartige Schöpfung des fein beobachtenden und fleißig
sammelnden arabischen Geistes, darauf die Araber stolz sein
durften. Ein Apologet des zehnten Jahrhunderts, der sich gegen
die griechische Philosophie wendet, sagte: “Wer die Feinheiten
und Tiefen der arabischen Poesie und Metrik kennt, der weiß,
dass sie alles dasjenige übertrifft, was die Leute als Beweise
für ihre Meinungen anzuführen pflegen, welche in dem Wahne
leben, dass sie die Wesenheiten der Dinge zu erkennen im
Stande sind: Zahlen, Linien und Punkte. Ich kann den Nutzen
dieser Dinge nicht einsehen, es sei denn, dass sie trotz des
geringen Nutzens, den sie bringen, den Glauben schädigen und
Dinge im Gefolge haben, gegen welche wir Gottes Beistand
anrufen.” Man wollte sich seine Freude an den Einzelheiten der
Sprache durch allgemeine philosophische Spekulationen nicht
trüben lassen. Manche Wortbildung, von den Übersetzern fremder
Werke herrührend, wurde als barbarisch [38]von puristischen
Sprachlehrern verabscheut. Und weitere Verbreitung als die
wissenschaftliche Sprachforschung fand die schöne Kunst der
Kalligraphie, die sich, wie die arabische Kunst überhaupt,
mehr dekorativ als konstruktiv, in edlen, feinen Formen
entwickelte. In den Schriftzügen der arabischen Sprache zeigt
sich uns noch die Subtilität des Geistes, der sie gebildet,
zugleich aber auch ein Mangel an Energie, der sich in der
ganzen Entwicklung arabischer Kultur bemerklich gemacht hat.