Divan der persischen Poesie
Rumi
Aus dem Divan - Bald
Bald haßt man mich, bald bin ich der Verehrte,
Bald der Begehrende, bald der Begehrte;
Bald glückt es mir, die Sinne zu besiegen,
Bald siegen sie, und ich muß unterliegen;
Bald bin ich Joseph, der in
Schönheit pranget,
Bald bin ich Jakob, der in Trauer banget;
Bald reißt mir Liebe die Geduld in Stücke,
Bald füg' ich mich, wie Job dem bösen Glücke.
Bald bin ich hohl wie Flöten, bald erfüllet,
Bald sinnlos, und in Weindunst bald gehüllet;
Bald macht ein Goldstück mich ins Feuer rennen,
Bald eine Silberbrust wie Gold mich brennen;
Bald reite ich auf eines Dives Rücken,
Bald neidet Job die Reize, die mich schmücken; Job, Hiob,
nicht allein durch seine Leiden, sondern auch durch seine
wunderbaren Reize bei den Mohammedanern ein Gegenstand der
Verehrung.
Bald richtet sich auf Andacht all mein Streben,
Bald hab' ich sünd'gem Frevel mich ergeben;
Bald bin ich Wolf, bald Löwe und bald Schlange,
Bald bin ich Mensch und liebe und verlange;
Bald bin ich strenge, häßlich, rauh von Sitten,
Bald bin ich reizend, sanft und wohl gelitten;
Bald ist von Schande frei des Weisen Leben,
Bald ist er ganz der Schande preisgegeben.
Vinzenz Rosenzweig von Schwannau