Joinville, 1. Februar 1875.
Heute sind es genau fünf Monate, daß ich wieder in
Frankreich bin ... An einem schönen heißen Sommersonntag bin
ich zurückgekehrt. Der »Espadon« fuhr durch die stillen Wasser
der Charente, nach einer vierzehntägigen Überfahrt, die wohl
zum Schrecklichsten in meinem Leben zählt. Am 20. Juli hatten
wir Saint-Louis und den Senegal verlassen.
Fünf Monate schon! Wie die Zeit verfliegt, sie rückt
Erinnerungen fern und löscht sie aus ... Mein bitteres Leid
werden die Jahre vielleicht auch einmal tilgen, wenn ich
gleich wünschte, es behalten zu können. Denn lieber noch ist
mir dieser Schmerz, der doch noch ein Teil von ihr ist, der
alles ist, was in mir lebendig bleibt, und ich ziehe diesen
Schmerz dem Vergessen vor, das die Zeit mir vielleicht bringt.
Alles ist in meinem Leben farblos und bleich geworden, das
Drama ist aus, ich bleibe allein zurück, zermürbt von der Tat,
und ich erwarte mit der Ruhe eines Verstorbenen die letzte
furchtbare Phase.
Dies Jahr 1874 ist wie ein Orkan durch mein Leben gebraust,
hat alles verwüstet und alles hinweggeweht, so daß mir ist,
als hätte ich bis dahin nicht gelebt und als hätte ich jetzt
zu leben aufgehört.
Und jetzt, mitten in der Stille und Leere meines Lebens,
ist mir, als wäre jene verworrene Zeit, in der ich so heiß
geliebt, nur ein wirrer Traum gewesen. Was war doch damals an
Leidenschaft in mir und um mich, wieviel Widerspruch und
wieviel Liebe ... Ich schritt dahin wie eingeschlossen in
einem Wirbelwind von Fieber und Trunkenheit. Wie ein Spiel
voll sträflicher Intrigen ist es gewesen, auf welches Afrikas
heiße Sonne herniedersah, auf unsere Jugend, die da mimte in
tropischer Luft, zwischen einsamen sandigen Kulissen.
Doch das war Leben, während ich jetzt gestorben bin. Mein
Erinnern ist nicht stärker als das eines Toten sein mag, der
des Lebens gedenkt. So ist mir, wenn ich nach rückwärts
schaue.
Ach, der 1. September der Tag meiner Wiederkehr, – mein
Gott, er liegt schon um fünf Monate zurück. Und drei Monate
sind es nun bald, daß ich zum letztenmal die geliebte Hand
gedrückt habe, die mir mein Leben zerbrach – das war in
Savoyen, in einer Nacht im Oktober, einer kalten Nebelnacht,
und unser Beisammensein war kurz, dunkel und geheimnisvoll,
wie wenn Missetäter sich treffen ... dann war es zwischen uns
zu Ende für immer.
Ihr dank' ich vermutlich, daß in meinem Erinnern ein
solcher Zauber über diesem letzten Jahre liegt, über der öden
afrikanischen Wildnis und über meinem alten Schiff ...
Mein Gott, schon fühle ich, wie mein Gedenken schwächer
wird, und wie es mählich ganz vergeht. Tagtäglich trachte ich,
einige Brocken auf dem Papier festzuhalten: Vergebliche Mühe,
ich kann es nicht in Worte fassen, und wenn ich später
nachlese, ist mir alles fremd und neu: geschriebene Sätze,
kalt und machtlos, und bis ins Innere gelangen sie mir nicht.
Ach, wenn die unerbittliche Zeit mein Haar gebleicht haben
wird, und wenn man dann den Leib der Erde wiedergibt, bleibt
dann nichts mehr zurück, keine Spur, kein Erinnern an das, was
ich so tief empfand, und was mit fünfundzwanzig Jahren mein
Herz so weh erzittern ließ?
Fünf Monate sind es heute, an einem schönen Sonntag ist's
gewesen, leise kam der »Espadon« die Wasser der alten Charente
heraufgefahren, und wir alle überließen uns der stillen Freude
unserer Wiederkehr ...
Am Abend vorher, während der Wachablösung, war ein großes
Fischerboot nahe an uns herangefahren, und die Bemannung hatte
uns zugerufen: »Ihr steuert zu scharf gegen Norden, ihr werdet
noch in der Bretagne landen!«
Hoch ging das Meer, und seine grünen, kurzen schnellen
Wogen schüttelten uns fürchterlich.
Bellegarde und ich aber sagten nach dem Diner: »Botz,
lieber Botz, die Nacht kündigt sich sehr stürmisch an, und
unser altes Schiff ist wackelig. Es wäre gebotene Vorsicht,
den Malvasier aus Palmas zu trinken, der uns übrig blieb.« Und
wir tranken den Malvasier.
Dann gewann ich im Ecarté gegen Botz den weißen Mantel, den
er für den Spahi gekauft hatte. Ich gewann ihn mit fünf
Punkten in dem Moment, als die Schiffswache das Feuer von
Rochebonne signalisierte, das erste Feuerzeichen der Heimat.
Da sind wir alle auf die Schiffsbrücke gelaufen.–