Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Joinville, 1. Februar 1875.

Heute sind es genau fünf Monate, daß ich wieder in Frankreich bin ... An einem schönen heißen Sommersonntag bin ich zurückgekehrt. Der »Espadon« fuhr durch die stillen Wasser der Charente, nach einer vierzehntägigen Überfahrt, die wohl zum Schrecklichsten in meinem Leben zählt. Am 20. Juli hatten wir Saint-Louis und den Senegal verlassen.

Fünf Monate schon! Wie die Zeit verfliegt, sie rückt Erinnerungen fern und löscht sie aus ... Mein bitteres Leid werden die Jahre vielleicht auch einmal tilgen, wenn ich gleich wünschte, es behalten zu können. Denn lieber noch ist mir dieser Schmerz, der doch noch ein Teil von ihr ist, der alles ist, was in mir lebendig bleibt, und ich ziehe diesen Schmerz dem Vergessen vor, das die Zeit mir vielleicht bringt.

Alles ist in meinem Leben farblos und bleich geworden, das Drama ist aus, ich bleibe allein zurück, zermürbt von der Tat, und ich erwarte mit der Ruhe eines Verstorbenen die letzte furchtbare Phase.

Dies Jahr 1874 ist wie ein Orkan durch mein Leben gebraust, hat alles verwüstet und alles hinweggeweht, so daß mir ist, als hätte ich bis dahin nicht gelebt und als hätte ich jetzt zu leben aufgehört.

Und jetzt, mitten in der Stille und Leere meines Lebens, ist mir, als wäre jene verworrene Zeit, in der ich so heiß geliebt, nur ein wirrer Traum gewesen. Was war doch damals an Leidenschaft in mir und um mich, wieviel Widerspruch und wieviel Liebe ... Ich schritt dahin wie eingeschlossen in einem Wirbelwind von Fieber und Trunkenheit. Wie ein Spiel voll sträflicher Intrigen ist es gewesen, auf welches Afrikas heiße Sonne herniedersah, auf unsere Jugend, die da mimte in tropischer Luft, zwischen einsamen sandigen Kulissen.

Doch das war Leben, während ich jetzt gestorben bin. Mein Erinnern ist nicht stärker als das eines Toten sein mag, der des Lebens gedenkt. So ist mir, wenn ich nach rückwärts schaue.

Ach, der 1. September der Tag meiner Wiederkehr, – mein Gott, er liegt schon um fünf Monate zurück. Und drei Monate sind es nun bald, daß ich zum letztenmal die geliebte Hand gedrückt habe, die mir mein Leben zerbrach – das war in Savoyen, in einer Nacht im Oktober, einer kalten Nebelnacht, und unser Beisammensein war kurz, dunkel und geheimnisvoll, wie wenn Missetäter sich treffen ... dann war es zwischen uns zu Ende für immer.

Ihr dank' ich vermutlich, daß in meinem Erinnern ein solcher Zauber über diesem letzten Jahre liegt, über der öden afrikanischen Wildnis und über meinem alten Schiff ...

Mein Gott, schon fühle ich, wie mein Gedenken schwächer wird, und wie es mählich ganz vergeht. Tagtäglich trachte ich, einige Brocken auf dem Papier festzuhalten: Vergebliche Mühe, ich kann es nicht in Worte fassen, und wenn ich später nachlese, ist mir alles fremd und neu: geschriebene Sätze, kalt und machtlos, und bis ins Innere gelangen sie mir nicht. Ach, wenn die unerbittliche Zeit mein Haar gebleicht haben wird, und wenn man dann den Leib der Erde wiedergibt, bleibt dann nichts mehr zurück, keine Spur, kein Erinnern an das, was ich so tief empfand, und was mit fünfundzwanzig Jahren mein Herz so weh erzittern ließ?

Fünf Monate sind es heute, an einem schönen Sonntag ist's gewesen, leise kam der »Espadon« die Wasser der alten Charente heraufgefahren, und wir alle überließen uns der stillen Freude unserer Wiederkehr ...

Am Abend vorher, während der Wachablösung, war ein großes Fischerboot nahe an uns herangefahren, und die Bemannung hatte uns zugerufen: »Ihr steuert zu scharf gegen Norden, ihr werdet noch in der Bretagne landen!«

Hoch ging das Meer, und seine grünen, kurzen schnellen Wogen schüttelten uns fürchterlich.

Bellegarde und ich aber sagten nach dem Diner: »Botz, lieber Botz, die Nacht kündigt sich sehr stürmisch an, und unser altes Schiff ist wackelig. Es wäre gebotene Vorsicht, den Malvasier aus Palmas zu trinken, der uns übrig blieb.« Und wir tranken den Malvasier.

Dann gewann ich im Ecarté gegen Botz den weißen Mantel, den er für den Spahi gekauft hatte. Ich gewann ihn mit fünf Punkten in dem Moment, als die Schiffswache das Feuer von Rochebonne signalisierte, das erste Feuerzeichen der Heimat.

Da sind wir alle auf die Schiffsbrücke gelaufen.–

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