An Bord des »Tonnerre«.
Cherbourg, Mai 1878.
Einen Monat in Cherbourg verlebt. Ich hätte es vorgezogen,
dies Land nicht wiederzusehen, das für mich so viel
schmerzliche Erinnerungen birgt. Erinnerungen an Jean, an
unser beider Leben, Erinnerungen an den Krieg, an die acht
trüben Monate, die ich im Jahre 70 hier verbringen mußte, acht
Monate einer qualvollen Existenz, acht Monate, während welcher
wir viel gelitten haben. Und dann Erinnerungen an Jeans
Abreise an Bord des »Petrel«, im Juni 1873.
Ich hatte mir vorgenommen, mit keinem Fuß dieses Land mehr
zu betreten; während dreier Wochen hielt ich Wort und bin an
Bord geblieben, bis ich eines Morgens eine Vorladung zum
Bahnhof bekomme. Eines Koffers wegen, den ich gezwungen bin,
selbst abzuholen.
Ich lasse mich von Yves in seiner Dampfschaluppe
hinüberführen und lande an der Stelle, an der ich vor fünf
Jahren mit traurigem Herzen Jean zum letztenmal umarmte, bevor
er, und ohne mich, nach dem Senegal abging.
Heute wieder ist ein so schöner Frühlingstag, einer der
ersten heißen Tage des Jahres. Die Gärten stehen voll
blühender Fliederpracht, doch trotz des blauen Himmels ist
Cherbourg, dies geschmacklose kleine Nest, öde und langweilig.
Ich laufe durch die Stadt, blicke weder nach rechts noch
nach links, trachte nur, so rasch als möglich, wieder
heimzukehren. Dennoch erweckt mir jeder Stadtteil, jede
Straßenecke, jeder Geschäftsladen, eine Flut von Erinnerungen.
Unsere Pension, unser Zimmer, das Haus, in welchem Emma
wohnte, der Zeitungskiosk, wo allabendlich die Nachrichten vom
Kriegsschauplatz erschienen, und die breite grüne Eiche am
Bahnhof, so selten in ihrer Art, unter deren Krone wir oft
saßen im Gedenken an Fontbruant und die Limoise.
Jetzt ist alles zu Ende zwischen Jean und mir, und noch
suche ich die Auflösung des düstern Rätsels, das ihn
unwiederbringlich von mir entfernt hat.
Nein, man kann gewaltsam keine Zuneigung töten, wie ich sie
für diesen verlorenen Bruder empfand, ohne daß tiefe,
schmerzende Wunden zurückbleiben müssen. Die fliehenden Jahre
üben ihre Heilkraft, leise legt sich Vergessen über die Dinge
und bald wird zweifellos das Erinnern an Jean in meinem Herzen
erstorben sein. Doch heute abend steigt sein sanftes Antlitz
wieder vor meinem Blick empor, und da verzeihe ich ihm alles,
was er mir einst getan.