Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

An Bord des »Tonnerre«.

Cherbourg, Mai 1878.

Einen Monat in Cherbourg verlebt. Ich hätte es vorgezogen, dies Land nicht wiederzusehen, das für mich so viel schmerzliche Erinnerungen birgt. Erinnerungen an Jean, an unser beider Leben, Erinnerungen an den Krieg, an die acht trüben Monate, die ich im Jahre 70 hier verbringen mußte, acht Monate einer qualvollen Existenz, acht Monate, während welcher wir viel gelitten haben. Und dann Erinnerungen an Jeans Abreise an Bord des »Petrel«, im Juni 1873.

Ich hatte mir vorgenommen, mit keinem Fuß dieses Land mehr zu betreten; während dreier Wochen hielt ich Wort und bin an Bord geblieben, bis ich eines Morgens eine Vorladung zum Bahnhof bekomme. Eines Koffers wegen, den ich gezwungen bin, selbst abzuholen.

Ich lasse mich von Yves in seiner Dampfschaluppe hinüberführen und lande an der Stelle, an der ich vor fünf Jahren mit traurigem Herzen Jean zum letztenmal umarmte, bevor er, und ohne mich, nach dem Senegal abging.

Heute wieder ist ein so schöner Frühlingstag, einer der ersten heißen Tage des Jahres. Die Gärten stehen voll blühender Fliederpracht, doch trotz des blauen Himmels ist Cherbourg, dies geschmacklose kleine Nest, öde und langweilig.

Ich laufe durch die Stadt, blicke weder nach rechts noch nach links, trachte nur, so rasch als möglich, wieder heimzukehren. Dennoch erweckt mir jeder Stadtteil, jede Straßenecke, jeder Geschäftsladen, eine Flut von Erinnerungen. Unsere Pension, unser Zimmer, das Haus, in welchem Emma wohnte, der Zeitungskiosk, wo allabendlich die Nachrichten vom Kriegsschauplatz erschienen, und die breite grüne Eiche am Bahnhof, so selten in ihrer Art, unter deren Krone wir oft saßen im Gedenken an Fontbruant und die Limoise.

Jetzt ist alles zu Ende zwischen Jean und mir, und noch suche ich die Auflösung des düstern Rätsels, das ihn unwiederbringlich von mir entfernt hat.

Nein, man kann gewaltsam keine Zuneigung töten, wie ich sie für diesen verlorenen Bruder empfand, ohne daß tiefe, schmerzende Wunden zurückbleiben müssen. Die fliehenden Jahre üben ihre Heilkraft, leise legt sich Vergessen über die Dinge und bald wird zweifellos das Erinnern an Jean in meinem Herzen erstorben sein. Doch heute abend steigt sein sanftes Antlitz wieder vor meinem Blick empor, und da verzeihe ich ihm alles, was er mir einst getan.

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