„Alle Anzeichen scheinen dafür zu sprechen, daß die religiöse
Begeisterung und die Hebung des muhammedanischen
Selbstgefühls, welche durch die Siege des Padischas über die
Griechen in der ganzen islamischen Welt ent-facht wurden, auch
heute noch anhalten. […] Ohne Frage haben die letzten Siege
des Sultans und deren Konsequenzen wieder einmal gezeigt, daß
die Macht und die Lebenskraft des Islam vielfach unterschätzt
wird. Nach den neuesten Berechnungen bilden die Muhammedaner
mit 260 Millionen Men-schen ungefähr den sechsten Theil der
Erdbevölkerung. Dabei macht der Is-lam in Asien und vorzüglich
in Afrika stetig große Fortschritte und wiewohl oder gerade
weil die europäische Kolonialpolitik in diesem Jahrhundert in
Afrika immer energischer und zielbewußter für das Christenthum
und die abendländische Kultur erobernd aufgetreten ist, ist
besonders hier eine mu-hammedanische Reaktion entstanden, die
mit allen Mitteln den europäischen Bestrebungen sich
entgegenstemmend mit dem mehr oder weniger offenen
ausgesprochenen Endzweck die christliche Herrschaft über die
muhamedani-schen Länder zu beseitigen.
Unter den Faktoren, welche diese neue Bewegung des Islams
ermöglicht ha-ben, ist in erster Linie der unerschütterliche
Glaube der Muhammedaner an die Wahrheit ihrer Religion zu
nennen, der ihnen trotz aller Enttäuschungen der letzten
Jahrhunderte und des Verfalls ihrer weltlichen Macht nicht
verlo-ren ging. Eine erhabende Frömmigkeit ist bis auf den
heutigen Tage bis in die höchsten Klassen unter allen Völkern
des Islams anzutreffen. Wir finden wenig Zweifler unter ihnen
[…]. Der strenge Gebetedrill, den der Koran vor-schreibt,
gewöhnt sie an Gehorsam und ruft ihren Gott ihnen immer wieder
in das Gedächtniß (sic!) zurück. Auf der Grundlage dieser
inneren Religiösi-tät sowie auf der Gemeinsamkeit der äußeren
Religionsgebräuche ist der Einheitsgedanke unter den
Muhammedanern entstanden und das Gefühl ei-ner Art von mehr
als nur religiöser Solidarität trotz aller nationaler
Eifer-süchteleien, auf welches sie besonders stolz sind und
welches sie gerade den Europäern gegenüber ostentativ
herauszukehren lieben. […] Es ist bezeich-nend, daß dieses
[mohammedanische Ordenswesen, Sal. Ob.] gerade in un-serem
Jahrhundert in Afrika zu einem Aufflammen gebracht wurde und
daß dort eine Bruderschaft mit europäerfeindlicher Tendenz
besonders mysti-scher Art, mit der Auflage blinden Gefolgsams
von seinen Gläubigen ent-standen ist: die Senussi, welche
heute nicht nur in dem größeren Theile des nördlichen Afrika
allmächtig geworden sind, sondern bereits in Arabien […] u. s.
w. Fuß gefasst haben. Als in jüngster Zeit die Idee des Mahdi,
die jeden Augenblick wieder in anderer Gestalt in Erscheinung
treten könnte, den e-gyptischen Sudan zum Aufruhr brachte,
erfolgte selbst bei Völkerstämmen, die bis dahin als religiös
ganz indifferent gegolten hatten eine Steigerung des plötzlich
entfachten Fanatismus, die an Wahnsinn grenzte. […]
Der Djehad, der heilige Krieg gegen die Ungläubigen, hat im
Laufe der Zei-ten seine Gestalt verändert, es wird ihm
gegenwärtig statt seines früheren rein aggressiveren ein mehr
defensiver Charakter beigemessen. Auch heute noch würden seine
Folgen unberechenbar sein, wenn er ausgerufen würde, nachdem
die muhammedanischen Völker in gehöriger Weise vorbereitet
worden wären. Der Sultan von Konstantinopel erhielt, ohne den
Djehad pro-klamiert zu haben, bereits in dem letzten Kriege
gegen Rußland aus allen Ländern des Islam Geldbeiträge und
Freiwillige, […]. Die muhammedani-sche Welt hat seit langer
Zeit aufgehört, ein Einheitsstaat zu sein, aber der
panislamische Gedanke hat immer bestanden und wird stets
bestehen. Vor mehreren Jahrzehnten wurde von Konstantinopel
eine Art panislamischer (sic!) Bewegung begonnen. In
außerordentlich geschickter Weise hat diese der gegenwärtige
Sultan mit großer Energie in die Hand genommen […]. Mehr als
je ist der Sultan gegenwärtig als der mächtigste
muhammedanische Fürst und der Herr und Beschützer der heiligen
Städte in der ganzen Welt des Islams angesehen. Mag er für
eine Großmacht als direkter Gegner auch weniger gefährlich
erscheinen, so würde er im Kampfe gegen jeden Staat, der
zahlreiche muhammedanische Unterthanen besitzt, ein wertvoller
Bun-desgenosse werden können. […] Es ist bemerkenswerth, wie
Deutschland, das sich als Freund des Sultans auch in der Zeit
seiner Noth gezeigt hat, von den christlichen Mächten sich
gegenwärtig der größten Beliebtheit bei den muhammedanischen
Völkern erfreut. […]“
PA-AA, R 14556, Bericht
Max von Oppenheims an das Auswärtige Amt und Reichskanzler
Hohenlohe Schillingfürst vom 05.07.1898, aus der
Inaugural-Dissertation »Zum wilden Aufstande
entflammen« Die deutsche Ägyptenpolitik 1914 bis 1918 - Ein
Beitrag zur Propagandageschichte des Ersten Weltkrieges,
Salvador Oberhaus, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2007